Technofeudalismus und Cloud-Kapital

Ilu ilu at fsfe.org
Mi Okt 11 17:32:22 UTC 2023


Hallo Erik,

 > Weshalb ich behaupte, dass wir auf eine Art noch schlimmer dran sind, 
  > als die Leibeigenen ("serfs") früher.
Als jemand mit Studium der Geschichte möchte ich dem widersprechen. Die 
Aussage ignoriert den ganzen Horror, der mit "serfdom" verbunden war.

Auch wenn ich den Begriff also nicht mag, weil Feudalismus eben doch 
historisch etwas anderes ist - die Problemanalyse ist richtig. Ich 
könnte Deinen Ausführungen noch etliche Auswüchse hinzufügen, die die 
katastrophalen Folgen dieses Technokapitalismus belegen.

Allerdings fürchte ich, dass das jetzt für diese Liste doch off topic 
ist. Mal nen allgemeinpolitischer Link ist gut, aber wir sollten uns 
darüber nicht in die Haare kriegen.

Schön wäre es aber, wenn Varoufakis nicht nur reden würde, sondern auch 
praktisch was täte - zB mal darauf achten, den Technokapitalismus nicht 
noch mithilfe seiner Partei zu füttern - 
https://webbkoll.dataskydd.net/de/results?url=http%3A%2F%2Fdiem25.org, 
gruselig (hab mich schonmal beschwert, erfolglos).

Viele Grüße
Ilu

Am 11.10.23 um 15:49 schrieb Erik Grun:
> Hallo, Bernhard,
> hallo, Liste,
> 
> Am 10.10.23 um 09:13 schrieb Bernhard E. Reiter:
> 
>> Am Sonntag 08 Oktober 2023 22:07:56 schrieb Erik Grun:
>>> ich habe neulich diesen sehr interessanten Vortrag von Prof. Yanis
>>> Varoufakis über "Technofeudalism and Cloud Capital" geguckt.
> […]
> 
>> Gefunden habe ich ein Interview im Guardian, für den Varoufakis auch
>> gelegentlich schreibt:
> 
> du meinst diesen Guardian hier, bei dem die Geheimdienste nachhaltig 
> dafür gesorgt haben, dass da nie wieder irgendwas zu staatskritisches 
> rauskommen wird?[0]
> 
>> https://www.theguardian.com/world/2023/sep/24/yanis-varoufakis-technofeudalism-capitalism-ukraine-interview 
>>
>> @carolecadwalla
>> Sun 24 Sep 2023 10.00 BST
> 
> Ok, ich habe mir das "Interview" durchgelesen, bei dem in erster Linie 
> _über_ Varoufakis' Leben geschrieben wird. Das mag für manche auch 
> interessant sein, aber was hat es mit seinem neuen Buch zu tun?
> Zumal auch da, wenn die Autorin dann doch mal alibi-mäßig auf das Thema 
> zurückkommt, sie offenbar lieber einen "Venture-Kapitalisten" und zwei 
> zum System gehörende Wirtschaftsprofessoren zitiert.
> 
> Das ist so, als ich würde ich ein Buch über die Gräueltaten von Thatcher 
> schreiben und du würdest dann die Meinung von Leuten wie Hayek oder 
> Milton Friedman einholen. U.a. die beiden haben die modernen 
> ideologischen (also "theoretischen") Grundlagen gelegt für 
> Steuersenkungen, Sozialabbau und Privatisierungen. Und die sollten dann 
> fundierte und ernsthafte Kritik an der Politik der "Eisernen Lady" üben, 
> die sie ja erst mit ermöglicht haben?
> Andersherum sollen die Profs. aus dem Artikel dann fundierte Kritik am 
> Kapitalismus üben können?
> 
>> Zwei Teile sind auffällig:
>> a) Die Ideen sind nicht komplett neu und der Begriff nicht so passend:
> 
> Das die Idee nicht "komplett neu"[1] ist, hat auch niemand behauptet, 
> auch nicht Varoufakis (V.) selbst. Feudalismus gab es schön deutlich 
> länger. Der wurde dann vom Kapitalismus (Kap.) abgelöst.
> Auch die Technologien, die es Amazon und Co. ermöglichten in den letzten 
> Jahren zu dem zu werden, was sie jetzt sind, gibt es nicht erst seit 
> gestern. Das, was neu ist, ist die Kombination aus beidem. Technologien, 
> die es dem Kapitalismus ermöglichen zu etwas noch viel finsterem zu 
> mutieren.
> 
> Da empfehle ich dann wieder das Video, da kann man nämlich V. erstmal im 
> O-Ton hören, bevor man sich von anderen sagen lässt, was man über ihn zu 
> denken hat. ;-)
> 
>> Shoshana Zuboff tells me that she “explicitly rejects labels like
>> technofeudalism because technology is not the independent variable nor 
>> are we
>> feudal serfs”. But she also says that the argument has some 
>> similarities to
>> one of hr latest papers: “In big tech we face a totalising power that 
>> in key
>> respects disqualifies itself from being understood as capitalism, but 
>> rather
>> as a wholly new form of governance by the few over the many.”
> 
> Aha, damit beschreibt sie doch ziemlich oberflächlich das, was auch bei 
> V. eben über den eigentlichen Kap., wie er noch bis vor kurzem zu finden 
> war, hinausgeht. Die Herrschaft der Wenigen über die Vielen – das ist 
> der Feudalistische Teil.
> 
> Im "klassischen" Kap. – und so habe ich das auch einigermaßen in meinem 
> Wirtschaftsstudium gelernt – produzieren die Arbeiter die Waren, die ihr 
> Kapitalist – heute würde man "Arbeitgeber"[2] sagen – dann verkauft.
> Im Feudalismus war es so, dass die Untertanen – z.B. Bauern – ihr Feld 
> bestellt haben und dann ihren Zehnt an die Aristokratie, die Fürsten 
> abgeben mussten. Die Fürsten selber haben natürlich nicht gearbeitet.
> Heute gibt es Unternehmen wie Amazon und Alibaba. Die produzieren auch 
> nichts mehr. Stattdessen, muss man als Kapitalist, der noch wirklich 
> etwas produzieren lässt, will man auf Amazon sein Angebot reinstellen – 
> sogar 40% seiner Einnahmen an Amazon abdrücken!
> Und das soll kein Feudalismus sein?
> Denn was für die zentralen "sozialen" Medien gilt, gilt auch immer mehr 
> für Amazon. Wer dort nicht stattfindet, findet gar nicht statt.
> Also, muss man seinen Zehnt an Bezos und Co. abdrücken.
> 
> Und natürlich spielt Technik dabei eine wesentliche Rolle in der 
> Unterdrückung und Manipulation. Ich meine, damals auf der einen Seite 
> der Volksempfänger, auf der anderen kommerzielles Fernsehen. Heutzutage 
> die Smartphones und das Internet Das ist doch wahrlich nichts Neues… 
> Weshalb ich behaupte, dass wir auf eine Art noch schlimmer dran sind, 
> als die Leibeigenen ("serfs") früher. Denn wo die Bauern noch wussten, 
> dass sie sich zusammentun müssen, um zu revoltieren, sitzen "wir" alle 
> da und denken, das Heute wären ideale Verhältnisse.
> Das ist doch nur möglich, weil den Menschen über Jahrzehnte eingeredet 
> wurde, "es gibt keine Alternative" ("There is no alternative").
> Aber wo früher die Leute den Fernseher noch abschalten oder einfach mal 
> eine andere Zeitung kaufen konnten, ist das halt heute nicht mehr 
> möglich. Wir sind doch so sehr in unserer schönen, neuen Medienblasen 
> verhaftet und werden auf der anderen Seite so zugeschmissen mit 
> Informationen, die uns immer wieder einreden: "Es gibt keine Alternative."
> "Und bloß nicht mit dem ungeimpften Nachbarn reden, mit dem man sich 
> sonst Jahrelang verstanden hat, der kann ja nur ein Nazi sein."
> "Und daran, dass der 90-jährige Ukrainer, der vor dem Kanadischen 
> Parlament stehende Ovationen bekommen hat, weil er 'tapfer' im zweiten 
> Weltkrieg gegen die Sowjetrussen kämpfte, daran kann auch nichts falsch 
> gewesen sein."
> 
> Aber Hauptsache man kann "einfacher denn je" bei Doctolib seine 
> Arzttermine buchen und bei Doc Morris alles online bestellen. Kostet 
> auch nichts. Nur die Freiheit.
> 
>> When I message Mariana Mazzucato, another charismatic and influential
>> economist, but one who, unlike Varoufakis, has been embraced by 
>> governments
>> and financial institutions, her response suggests that some of 
>> Varoufakis’s
>> ideas are not that new. She herself published on an adjacent
>> concept, “algorithmic rents” (the idea that tech companies capture 
>> attentions
>> and resell it rather than creating long-term value) in 2018.
> 
> "charismatic and influential". Das muss dieser neutrale Journalismus 
> sein, von dem sie uns der Schule noch erzählt haben. ;-)
> 
> Aber auch hier, V. selber ist ein großer Freund von John K. Galbraith, 
> der schon 1967 ein erstes Werk darüber geschrieben hat, wie wir uns vom 
> "traditionellen" Kapitalismus entfernen.
> Auch Herbert Marcuse hat zur gleichen schon davon geredet, dass Technik 
> _nicht neutral_ ist, sondern _immer_ in einem gesellschaftlichen Kontext 
> gemacht wird. Und im Kapitalismus und jetzt im Techno-Feudalismus ist 
> die halt dazu da, die Gewinne zu mehren und die Herrschaft über uns 
> auszubauen.
> 
>> b) Varoufakis scheint umbedingt populistisch aufallen zu wollen:
>>
>> [..] conversation, which includes half an hour on Russia and Ukraine 
>> during
>> which I politely disagree with everything he says. His views on the 
>> conflict
>> are practically indistinguishable from Nigel Farage’s, rehearsing the 
>> same
>> far right-meets-far left “horseshoe” rhetoric about doing a deal with 
>> Putin,
>> and Crimea not really being Ukraine.
> 
> Ich weiß nicht, was dieser schlechte Versuch eines Ad-Hominems in dem 
> Artikel soll. Aber das ist klar, wenn einem inhaltlich nichts mehr 
> einfällt, wird man halt beleidigend. Dann wirft man jemanden wie 
> Varoufakis – der wahrscheinlich mehr als andere ein wirklicher Europäer 
> ist und sogar eine pan-europäische, progressive Bewegung gegründet hat – 
>   halt in einen Topf mit Nigel Farage…
> 
> Aber mal eine grundsätzliche Frage: Wenn der Falsche das richtige sagt, 
> ist das dann trotzdem falsch? Angenommen die AfD würde sich jetzt für 
> Klimaschutz einsetzen…? Angenommen Farage hätte recht, dass man auch mit 
> einem Putin reden muss, denn es geht bei den Krieg um Menschenleben.
> 
> Das hat aber auch alles nichts mehr mit dem Thema "Technofeudalismus" zu 
> tun.
> Aber vielleicht doch. Denn unsere Feudalherren freut es natürlich 
> außerordentlich, wenn wir uns lieber untereinander darüber streiten, ob 
> die Krim jetzt zu Russland gehört oder nicht, statt auf die vielen 
> hunderttausenden von Menschen zu schauen, deren Leben in diesem Krieg 
> zerstört wurden. Vor allem sollten wir auch keinesfalls auf die 
> Profiteure des Kriegs – die NATO und die Rüstungsunternehmen und deren 
> Milliardengewinne schauen.
> 
>> Danke also für die Anregung, das war eine gute Gelegenheit mal 
>> Feudalismus
>> auf Wikipedia anzulesen. :)
>>
>> Wenn ich weiterlesen wollte, dann vermutlich eher Frau Mazzucato oder 
>> Frau
>> Zuboff, die erscheinen mir interessanter.
> 
> Ja, schon klar, wenn man Kapitalismus gut findet, liest lieber man 
> solche Autoren.
> 
> Vielleicht noch eine Bemerkung zum Schluss. Ich habe auch so mein 
> Problem mit dem Begriff "Technofeudalismus" und damit, dass der Kap. 
> ganz vorüber sein soll.
> 1) V. hat schon 2021 in Vorträgen vom "Technofeudalismus" gesprochen – 
> "in lack of a better term", wie er selber sagte. Zwei Jahre später finde 
> ich seine Argumentation für den Begriff ganz schlüssig.
> 2) Ich meine, es gibt natürlich immer eine Menge (Groß-)Kapitalisten, 
> die die Arbeitskraft ihrer Angestellten ausbeuten (müssen). Aber Fakt 
> ist nun mal auch, dass die Milliarden Gewinne, die von den Bezos, 
> Zuckerbergs und Co. eingefahren werden zum Großteil als totes Kapital[3] 
> daliegt.
> Selbst Unternehmer wie Henry Ford mussten noch 70% ihrer Einnahmen 
> wieder in die Produktion, die Gehälter etc. investieren.
> Aber Unternehmen Facebook, etc. beschäftigen ja kaum noch Leute und die, 
> die einen Großteil des Werts dieser Unternehmen erwirtschaften – nämlich 
> deren Nutzer – bekommen sowieso nichts dafür.
> Deswegen liegen diese Gewinne als totes Kapital da rum und können auch 
> volkswirtschaftlich nicht investiert werden.
> 
> Insofern kann die aktuelle Entwicklung eigentlich niemand wollen.
> 
> Viele Grüße
> 
> Erik (egnun)
> Koordinator FSFE Berlin
> 
> [0] 
> https://www.declassifieduk.org/how-the-uk-security-services-neutralised-the-countrys-leading-liberal-newspaper/ 
> 
> [1] Kann es etwas "komplett neues" überhaupt (noch) geben? Ist das 
> E-Auto etwas "komplett neues"? Weil Autos auf vier Rädern hatten wir 
> auch vorher schon. Ist das Auto überhaupt etwas "komplett neues", denn 
> davor gab es Pferdekutschen.
> [2] Wobei ich den Begriff eher ablehne. Denn Arbeit habe ich genug. Die 
> brauch mir niemand zu "geben". Wenn dann _gebe ich_ dem Unternehmer 
> meine "Arbeitskraft". Und dieser _nimmt_ meine Arbeitskraft.
> [3] Kapital definiert als "Wert, der sich selbst verwertet, also Gewinn 
> abwirft."
> 
>  > ps.: Hinweis: Gibt es Deinen öffentlichen OpenPGP Schlüssel auch 
> aktualisiert?
>  > Der, den ich vom neuen Keyserver-Netzwerk erhalten habe, ist im Mai 
> verfallen.
> 
> Ich hänge meinen Key immer meinen E-Mails an.
> 
> [[[ Hiermit widerspreche ich ausdrücklich der Erfassung, Speicherung
> und Verarbeitung meiner Daten zu anderen Zwecken, als der Zustellung
> meiner Nachricht zum Empfänger ]]]
> 
> 
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