Vorwort

Georg C. F. Greve greve at gnu.org
Fr Aug 24 16:26:24 UTC 2001


Hallo allerseits,

wie manche von Euch schon wissen, habe ich in den letzten Wochen das
Buch "Freie Software - zwischen Privat- und Gemeinbesitz" von Volker
Grassmuck redigiert, das in der Reihe "Wissen im digitalen Zeitalter"
erscheinen wird. Das war recht viel Mühe, doch da das Buch vermutlich
auch in Schulen verwendet werden soll, hielt ich es für angebracht, es
so gut wie möglich zu machen.

Für dieses Buch hat Volker mich zudem um ein Vorwort gebeten, das ich
in seiner aktuellen Version unten angehängt habe, falls es Euch
interessiert.

Gruß,
Georg


P.S. Wer am Wochenende in Berlin ist, hat die Chance, mich auf der IFA
zu treffen, ich halte um 11:00, ICC Berlin, Saal 9, einen Vortrag zu
"Copyright im Internetzeitalter".

-------------- nächster Teil --------------
Buch "Freie Software - zwischen Gemein- und Privateigentum" (Volker Grassmuck)

Vorwort

"Am Anfang war alle Software frei." 

Mit diesem Satz beginne ich häufig einführende Vorträge zum Thema
Freie Software, da er verdeutlicht, daß Freie Software keinesfalls ein
Phänomen der 90er Jahre ist, obwohl es teilweise gerne so dargestellt
wird.

Natürlich ist das auch nur die halbe Wahrheit. Anfangs machten sich
die Beteiligten keine Gedanken um die Freiheit von Software, die nur
als "Dreingabe" zur Hardware betrachtet wurde.

Es läßt sich zu Recht sagen, daß die eigentliche Taufe Freier Software
durch Richard Stallman vollzogen wurde, der 1984 das GNU-Projekt und
1985 die Free Software Foundation gründete. Dabei beschäftigte er sich
zum ersten Mal mit der Frage, was Freie Software ist. Seine Definition
Freier Software hat sich bis heute als die kompakteste und präziseste
erwiesen.

Doch obwohl Freie Software je nach Betrachtungsweise bereits seit
ungefähr 20 bzw. 40 Jahren existiert, hat sie sich bisher dem
Verständnis der meisten Menschen entzogen. Auch heute hat nur eine
sehr kleine Zahl von Menschen Freie Software wirklich verstanden.

Die vielfältigen Versuche, Freie Software zu beschreiben oder zu
erklären, erschöpfen sich zumeist in reiner Phänomenologie. Und auch
wenn sie zutreffend sind, sind Betrachtungen der Quelloffenheit ("Open
Source") und des Entwicklungsmodells in vieler Hinsicht eher
hinderlich, da durch sie von den essentiellen Fragen abgelenkt wird.

Insofern ist es immer erfrischend, ein Buch in Händen zu halten, das
sich mit beachtlichem Erfolg um eine ausgewogene und gründliche
Betrachtung bemüht.

Doch was ist nun Freie Software? Die einfachste - und doch in vieler
Hinsicht unzureichendste - Antwort auf diese Frage liefert die
Definition Freier Software. Oft gibt schon die Stellung einer Frage
die Tendenz der Antwort vor und manchmal ist eine Antwort
unbefriedigend, weil die falsche Frage gestellt wurde.

Die Welt der Freien Software ist geprägt von Dualismen. Freie Software
ist sowohl kommerziell als auch nicht-kommerziell und privat als auch
öffentlich.

Hinzu kommt, daß Software per se einen Dualismus darstellt. Sie ist
nicht nur selber festgeschriebenes Wissen um Probleme und
Problemlösungsstrategien, sie dient auch als Medium und Träger für
Informationen und Erkenntnisse aller Art.

Doch Software ist nicht nur abstraktes Wissen, sie ist auch
kontrollierendes und ausführendes Organ in einem immer stärker von
Computern durchdrungenen Alltag. Ihre Omnipräsenz macht das
Wirtschafts- zum Kulturgut mit unmittelbarer Bedeutung für die gesamte
Gesellschaft.

Dabei ist Software selbst zunächst ultimativ statisch, sie ändert sich
nicht ohne äußere Einflüsse. Aus dem Bezugssystem des in einer
dynamischen Welt lebenden Betrachters bedeutet dies, daß Software
degeneriert, sie ist vom permanenten Verfall bedroht.

Software lebt nur durch die kontinuierliche Benutzung,
Weiterentwicklung, Weitergabe und Pflege. Dieser Prozess ist
Voraussetzung für die ungeheure Dynamik, die durch Software entfaltet
werden kann, und wird bei unfreier (proprietärer) Software
unterbrochen; sie wird gleichsam an eine Herz-/Lungenmaschine
gekoppelt. Nur die in permanenter, eigenständiger Evolution
befindliche Freie Software ist wahrhaft lebensfähig.

Software ist also ebenso dynamisch wie auch statisch, die Reihe der
Dualismen setzt sich fort.

Analog zum Welle-Teilchen-Dualismus der Physik, durch den Photonen
sowohl als Teilchen wie auch als Wellen zu betrachten sind, zeigt sich
hier ein Software-Dualismus, dessen Verständnis eine wesentliche
Aufgabe am Übergang zum Informationszeitalter darstellt.

Dabei ist die Frage nach dem Umgang mit dem Wissen letztlich so alt
wie die Menschheit selbst. Das älteste mir bekannte Zitat zu diesem
Thema geht zurück auf Aurelius Augustinus, der in seinem "De doctrina
christiana" schreibt: "Omnis enim res, quae dando non deficit, dum
habetur et non datur, nondum habetur, quomodo habenda est."

Dieses Zitat zur Frage der Wissensvermittlung, das sich frei etwa mit
"Denn jede Sache, die durch Weitergabe an andere nicht verliert,
besitzt man nicht, wie man soll, solange sie nur besessen und nicht an
andere weitergegeben wird." übersetzen läßt, wurde bereits im Jahre
397 unserer Zeitrechnung geschrieben.

In der Vergangenheit war die Verbreitung und Vermittlung von Wissen
mit einem zum Teil erheblichen Aufwand verbunden, erst heute besitzt
die Menschheit die Möglichkeit, Wissen frei zirkulieren zu lassen.

Schenkt man vor diesem Hintergrund der Idee des Software-Dualismus
einen zweiten Blick, so wird offensichtlich, daß sich große Teile der
Überlegung nicht nur auf Software im Speziellen sondern auch
unmittelbar auf Wissen im Allgemeinen anwenden lassen; eventuell also
von einem Wissens-Dualismus gesprochen werden muß, den es zu verstehen
gilt.

Das Verständnis dieser Problematik und die Lösung der dadurch
entstehenden Fragen zählen zu den wichtigsten Aufgaben im Zusammenhang
mit dem sogenannten Informationszeitalter. Gleichzeitig ist es ein
Gebiet, das augenblicklich fast ausschließlich der freien Entfaltung
der Interessen einer Minderheit auf Kosten der Gesellschaft überlassen
wird.

Da nachhaltige Lösungen von der Gesellschaft getragen werden müssen,
ist es notwendig, ein Bewußtsein und Verständnis für diese Fragen zu
schaffen. Denn nur wenn die Gesellschaft um diese Fragen weiß, kann
dauerhaft sichergestellt werden, daß das Informationszeitalter nicht
durch die blinde Durchsetzung von Minderheitsinteressen vorzeitig
beendet wird.

In diesem Sinne handelt es sich bei dem vorliegenden Buch sowohl um
einen Meilenstein zum Verständnis und der Sicherung des "digitalen
Zeitalters" als auch um eine der vollständigsten Betrachtungen zum
Thema Freier Software.

Georg C. F. Greve
Hamburg, den 20.8.2001
-------------- nächster Teil --------------

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Georg C. F. Greve                                       <greve at gnu.org>
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