Re: Umsteig auf Freie Software, Betriebssystem später?

Kristian Rink mail at zimmer428.net
Do Mär 18 19:59:21 UTC 2021


Hallo alle;

Am 18.03.21 um 17:08 schrieb Theo Schmidt:

> Das Problem ist das politische Bewusstsein oder dessen Fehlens. Seitdem 
> wir dem Kampf in der ISO um das Office-Format ODF verloren haben (es 
> ging um die Etablierung der Microsoft-kompatiblen Formate als 
> konkurrenzierenden ISO-Standard) wird unsere Position immer schlechter, 
> weil Microsoft immer noch sehr geschickt ODF-Kompatibilität schlecht 
> implementiert und kaum jemand ODF akzeptiert, wenn sein MS-Office XY es 
> nicht richtig öffnet.


Gehen wir es doch trotzdem auch mal andersherum an (ich kenne den 
Ausgangspunkt dieser Diskussion, ich komme auch aus einer Branche, die 
mit genau diesen proprietären, hochpreisigen, teilweise teuer 
zertifizierten Anwendungen arbeitet): Eine Firma wie AutoDesk hat heute 
knapp 9k Mitarbeiter weltweit, ein nicht unbeträchtlicher Teil davon 
Entwickler und Fachexperten. Die sind in ihrer Branche seit fast 40 
Jahren am Start und haben relevantes fachliches Know-How. In deren 
Software steckt eine substantielle Anzahl von Mannjahren bis zum 
heutigen Stand.

Nehmen wir mal an, wir könnten jetzt auf der grünen Wiese beginnen (und 
bräuchten weniger Ressourcen als AutoDesk, weil wir etwa keine 
Legacy-Implementationen pflegen, kein Refactoring betreiben, keine alten 
Versionen supporten müssen). Blenden wir auch mal aus, dass wir 
tatsächlich viel Geld in die Hand nehmen müssen (etwa für 
Zertifizierungen für bestimmte rechtliche Anforderungen, für den Einkauf 
proprietärer Konverter für bestimmte etablierte Dateiformate, ...).

Was bleibt: Wir brauchen absehbar eine beträchtliche Menge an 
Ressourcen, um eine Software zu schaffen, die jenes Subset der Features 
der Autodesk-Produkte implementiert, das es für professionelles Arbeiten 
braucht (mit Blick aus der Bauplanung sehe ich derzeit *kein* offenes 
CAD-Tool, das annähernd dem entspricht). Diese Ressourcen müssen zudem 
interdisziplinär sein (Entwickler, Tester und alle artverwandten 
Disziplinen, aber vor allem auch Experten mit langjähriger Expertise in 
der jeweiligen Fachdomäne).

Wir betonen relativ häufig, dass FLOSS ein besseres Konzept, weil 
Kollaboration besser als Wettbewerb ist. Also: Woran klemmt es? Warum 
schaffen wir es nicht, diese Menge an Ressourcen aufzubringen oder 
zusammenzuführen? Was fehlt hier strukturell, damit das gelingen kann?

Im Umkehrschluss: Warum haben wir über ein halbes Dutzend von 
halbfertigen Linux-Desktop-Umgebungen, eine unzählbare Menge von nur in 
Nuancen variierenden Linux-Distributionen, Myriaden von angefangenen 
Implementationen dieser oder jener Internet-Protokolle, stellen uns aber 
gleichermaßen denkbar unbeholfen dabei an, FLOSS auch dorthin zu 
bringen, wo es für langfristigen Erfolg sehr viel wichtiger wäre - 
nämlich in die hochspezialisierten fachlichen Nischen? Dort *wäre* sogar 
jetzt schon ein sehr interessantes Betätigungsfeld. Jenseits von CAD- 
und Planungssoftware herrscht kein Mangel an Fachgebieten, die sich 
teilweise mit überalterten, seit langem nicht mehr support-baren 
Anwendungen herumschlagen, die teilweise alte Windows- oder 
DOS-Varianten in virtuellen Maschinen weiterbetreiben müssen für die 
alten Systeme, die FLOSS-Lösungen sofort und mit Kusshand nutzen würden 
- für deren Branchen es aber schlicht keine gibt und denen im Kleinen 
(auf der Flughöhe KMU) auch jegliche Kraft fehlt, so ein Problem selbst 
anzugehen.

Politisches Bewusstsein, politischer Wille, Fokus auf offenen Standards 
sind sicher alles valide Punkte. Aber wie *löst* man das? Wie kommt man 
weg von einer FLOSS-Welt, die im Wesentlichen lebt von der 
Freizeit-Arbeit von technisch befähigten Idealisten (die nicht selten 
ihre Rechnungen aus dem Gehalt von großen Firmen bezahlen) oder aber von 
den Beiträgen großer Firmen, die FLOSS-Entwickler finanzieren, um die 
Ergebnisse in eigenen proprietären Anwendungen und Services (OpenSource 
!= SoftwareLibre) nachnutzen zu können? Dort sehe ich keine Idee. Selbst 
Ansätze wie "public money, public code" sind zwar gut gemeint, lösen 
aber nicht das Problem, dass man eine Möglichkeit braucht, das "public 
money" sinnvoll auszugeben, dass es Strukturen (Firmen? Organisationen? 
Communities?) gibt mit dem Know-How und der Erfahrung, Projekte in 
dieser Größenordnung (um bei dem CAD/AutoDesk-Beispiel zu bleiben) zu 
koordinieren und halbwegs geplant "auf die Straße" zu bringen.

Aber vielleicht übersehe ich auch nur Offensichtliches...

Viele Grüße,
Kristian


Mehr Informationen über die Mailingliste FSFE-de