Re: Bessere Software-Unterstützung für kontroverse Diskussionen (9 Thesen und ein Appell)

Carsten Knoll carsten.knoll at posteo.de
So Dez 19 14:02:07 UTC 2021


Hallo Michael,


On 18.12.21 17:54, Dr. Michael Stehmann wrote:

> [...]
> Nun zur (hoffentlich konstruktiven) Kritik:
> 
> Ich fürchte, dass hier wieder einmal ein soziales Problem mit
> technischen Mitteln "gelöst" werden soll.

Ich versuche mal Deine Befürchtung zu entkräften.


Ich stimme Dir zu, dass das Potenzial technischer Lösungen sehr begrenzt
(oder sogar negativ) ist, wenn sie nicht von wünschenswerten sozialen
Innovationen begleitet werden. Aber ich strebe in meinem Wunschszenario
eine eine "technisch vermittelte" soziale Innovation an.


> Um dies an die These 1 anknüpfend zu verdeutlichen:
> 
> Es gab "textbasierte und asynchron ablaufende Diskussionen" durch
> Briefwechsel unter Gelehrten, die die Wissenschaft vorangebracht haben
> [0]. Und es gab Bürgerversammlungen, die im Geschrei und Schlimmeren
> endeten.

Das stimmt, würde ich aber als "die Regel bestätigende Ausnahmen"
klassifizieren. Wir machen vermutlich alle die Erfahrung, dass die
Gefahr keiner dysfunktionalen Kommunikation via Mail etc. viel größer
ist, als über Telefon oder persönlich. Ich vermute, dass es dazu auch
Studien gibt und würde bei Bedarf mal suchen. Bisher nur eigene
Erfahrung und anekdotische Evidenz.


> Es ist leider nicht mit Sicherheit erwartbar, dass ein Mensch deshalb
> respektiert wird, weil er ein Mensch ist (und ihm eine unantastbare
> Würde eigen ist).

Zustimmung. Aber das ist ehrlich gesagt nicht das Hauptproblem, was ich
angehen möchte, bzw. möchte ich es indirekt angehen.

Ich möchte, dass die *Sachebene* einer Diskussion gestärkt wird, dass
die verschiedenen Argumente und Perspektiven möglichst transparent
erkennbar sind. Zum Beispiel in dem (technischer Aspekt) die
Urheberschaft eines Beitrages nicht erkennbar ist, sondern der Inhalt
für sich steht (und für sich überzeugen muss).


> Manche Menschen meinen, dass sie im Recht sind und alle anderen dies
> einsehen müssen. Und dass eine andere Meinung schon deshalb auf
> Boshaftigkeit beruhen muss, weil sie ja zu den "Guten" gehören. Bei
> ihnen ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass auch derjenige,
> der eine andere Auffassung vertritt, recht haben könnte. Dieses
> Bewusstsein ist aber notwendige Voraussetzung für eine Diskursfähigkeit.

Eingeschränkte Zustimmung. Ich glaube, die wenigsten Menschen würden in
einer nüchternen Gesprächssituation für sich tatsächlich *Unfehlbarkeit*
beanspruchen. Und wenn doch, dann müsste man sie nicht ernst nehmen. In
einem emotional aufgeladenen Gespräch verhalten sich aber manche
Menschen so, wie Du beschrieben hast. Ich glaube aber, dass (technisch
erzwungene) Formalisierung hier (etwas) helfen kann. 1. Indem man die
Kommunikationsbeiträge klar klassifiziert (z.B. These, Pro-Argument,
Kontra-Argument, etc.), 2. indem man sie hinsichtlich ihrer
Überzeugungskraft bewerten lässt (und damit ihre Sichtbarkeit
beeinflusst), und drittens indem man (teilautomatisiert) moderiert.

Schlecht bewertete (destruktive) Beiträge werden dann einfach weiter
unten (oder gar nicht) angezeigt. Dann sind sie a) egal und b) überlegen
sich Menschen für den nächsten Beitrag, wie sie erneute Irrelevanz
verhindern können (oder ob sie lieber auf einer anderen Plattform
rumnerven).


> 
> (Schwierig wird es, wenn beiden Seiten recht haben können: Man stelle
> sich eine Diskussion unter Wissenschaftlern vor, von denen einer die
> Auffassung vertritt, Licht sei Wellen. Der andere hält dies für falsch,
> weil Licht "ganz klar und experimental nachgewiesen" aus Teilchen bestehe.)


Volle Zustimmung. Schwierig, aber auch sehr interessant und hochgradig
relevant. Mein Wunsch in diesem Szenario wäre, dass beide Seiten
einsehen müssen (durch die "normative Kraft des Faktischen"), dass es
für beide Sichtweisen sehr gute Argumente und Belege gibt und dass die
existierenden Begriffe offenbar die bekannten Eigenschaften von Licht
nicht vollständig erfassen können. Dann kann jemand eine Modell
vorschlagen, dass mit allen bisherigen Beobachtungen kompatibel ist,
z.B. das Konzept der Aufenthaltswahrscheinlichkeit, die durch die
Wellenfunktion bestimmt wird, siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Welle-Teilchen-Dualismus#Aufl%C3%B6sung_des_Welle-Teilchen-Dualismus_in_der_Quantenmechanik



> 
> Auch ist zu bedenken, dass Menschen sich nicht deshalb an Diskussionen
> beteiligen, weil sie ein Problem lösen wollen. Es gibt vielmehr
> vielfältige andere Gründe und Motive, sich an einer Diskussion zu
> beteiligen.


Volle Zustimmung. Trolle zum Beispiel, die Diskussionen als Zeitvertreib
torpedieren, oder Leute die aus eigenem Interesse verhindern wollen,
dass eine Diskussion zu einem Ergebnis kommt.

In meinem Wunschszenario sind deren Kommunikationsbeiträge schlicht
irrelevant, weil sie leicht als "nicht sachdienlich" erkannt und
markiert werden können. Genau so wie 23 schlechte und falsche Antworten
auf Stack-Overvlow mich nicht davon abhalten, die guten (und
hoch-gevoteten) Antworten zu finden. In den meisten Fällen sehe ich den
irrelevanten Kram gar nicht, wenn ich mit den oberen Antworten zufrieden
bin. Und dann sinkt natürlich auch der Anreiz Zeit und Aufwand ins
Trollen zu investieren (zum Vorteil von allen).


> 
> Dass meiner Meinung nach ein Code of Conduct kein "Königsweg" zur Lösung
> dieser sozialen Probleme ist, dürfte bekannt sein.

Partielle Zustimmung. Aus meiner Sicht ist ein solches Dokument auch
kein Garant. Aber es kann eine wichtige Zutat für gelingende
Kommunikation sein. Zum Beispiel, weil man als Moderation dann einfach
mit Verweis darauf durchgreifen kann. Wem der CoC nicht passt, der
braucht halt nicht mitdiskutieren.


> 
> Auch eine Deanonymisierung ist keine Lösung, denn leider werden Hass bis
> hin zu Morddrohungen auch unter "Klarnamen" verbreitet. Auch Mobbing
> geschieht oft ebenso so offen.

Zustimmung. Meine These: Wenn man *nur* anonyme Beiträge zulässt und
diese "geeignet" nach Konstruktivität sortiert und filtert, sodass
Beleidigungen etc. effektiv unsichtbar werden, gibt es keinen Anreiz für
Menschen sich destruktiv an einem derart gestalteten Diskurs zu
beteiligen. Die suchen sich dann andere Spielplätze und lassen die
Menschen, die sich wirklich inhaltlich um die Sache bemühen möchten in
Ruhe ihre Argumente austauschen.


> 
> Was hilft: Respekt und Toleranz als selbstverständliche Haltung. Dies
> zum Allgemeingut zu machen ist aber eine Frage der (Volks-)Bildung.
> 
> Vielleicht ist es ein erster Schritt, wenn unsere Community mit gutem
> Beispiel vorangeht.


Volle zustimmung. Aber das ist auch ein Allgemeinplatz :). Also ein
absolut  lobenswerter Appell – allein aber ich befürchte von
beschränkter Wirkmächtigkeit.

Der Vorteil einer technischen Lösung ist aus meiner Sicht, dass dort das
wünschenswerte Kommunikationsverhalten "in Code gegossen" werden und
dadurch potentiell das Kommunikationsverhalten von vielen Menschen
positiv beeinflussen kann. In dem Sinne sehe ich die technische Lösung
als präzise ausformulierte (also implementierte) soziale Innovation.


These: Eine Gruppe von vier klugen Menschen könnte mit zwei Monaten
Arbeit vermutlich keinen Appell, kein Manifest oder auch sonst einen
Text formulieren, der nennenswert etwas an der weit verbreiteten
dysfunktionalen Kommunikation ändert. Vermutlich auch dann nicht, wenn
man Gruppengröße und Arbeitszeit jeweils mit 10 multipliziert.

Wenn man die gleichen Ressourcen dagegen in Software (inkl. Test,
Marketing, etc) stecken würde, sehe ich aber deutlich größere
Chancen für einen positiven Einfluss.

Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich versuche mich bei der Betrachtung
von Problemen auf Lösungen zu konzentrieren, die halbwegs realistisch
angegangen werden können. Also eher: "Was kann ich tun", statt "Es
müsste etwas Geschehen". :)



Gruß,
Carsten



-- 


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