Re: Bessere Software-Unterstützung für kontroverse Diskussionen (9 Thesen und ein Appell)
Dr. Michael Stehmann
anwalt at rechtsanwalt-stehmann.de
Sa Dez 18 16:54:03 UTC 2021
Hallo Carsten;
erst einmal die Zustimmung:
Ich bin auch der Meinung, dass jedes neue Medium, jede neue Technik, die
eine Verbesserung gegenüber den Bisherigen darstellt, begrüÃenswert ist.
Das gilt erst recht dann, wenn sie gegenüber den Bisherigen
"Alleinstellungsmerkmale" aufweist.
Ich bin auch der Meinung, dass Kommunikationstechniken auf Offenen
Standards basieren und (zumindest auch) in Freier Software implementiert
sein sollen (oder besser: müssen). (Ich hoffe, dass die Diskursfähigkeit
mündiger, aufgeklärter Bürger der Grund dafür ist, warum wir Kindern in
Schulen Lesen und Schreiben und noch einige andere Dinge beibringen.)
Nun zur (hoffentlich konstruktiven) Kritik:
Ich fürchte, dass hier wieder einmal ein soziales Problem mit
technischen Mitteln "gelöst" werden soll.
Um dies an die These 1 anknüpfend zu verdeutlichen:
Es gab "textbasierte und asynchron ablaufende Diskussionen" durch
Briefwechsel unter Gelehrten, die die Wissenschaft vorangebracht haben
[0]. Und es gab Bürgerversammlungen, die im Geschrei und Schlimmeren
endeten.
Um Aspekte des sozialen Problems zu nennen:
Es ist leider nicht mit Sicherheit erwartbar, dass ein Mensch deshalb
respektiert wird, weil er ein Mensch ist (und ihm eine unantastbare
Würde eigen ist). Es ist nicht selbstverständlich, dass alle anderen
Attributierungen (Geschlecht, sexuelle Präferenzen, Hautfarbe,
Vereinszugehörigkeit, Alter, Sozialisation, Herkunft, Prominenz etc.)
Akzidentien betreffen. [1]
Manche Menschen meinen, dass sie im Recht sind und alle anderen dies
einsehen müssen. Und dass eine andere Meinung schon deshalb auf
Boshaftigkeit beruhen muss, weil sie ja zu den "Guten" gehören. Bei
ihnen ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass auch derjenige,
der eine andere Auffassung vertritt, recht haben könnte. Dieses
Bewusstsein ist aber notwendige Voraussetzung für eine Diskursfähigkeit.
(Schwierig wird es, wenn beiden Seiten recht haben können: Man stelle
sich eine Diskussion unter Wissenschaftlern vor, von denen einer die
Auffassung vertritt, Licht sei Wellen. Der andere hält dies für falsch,
weil Licht "ganz klar und experimental nachgewiesen" aus Teilchen bestehe.)
Auch ist zu bedenken, dass Menschen sich nicht deshalb an Diskussionen
beteiligen, weil sie ein Problem lösen wollen. Es gibt vielmehr
vielfältige andere Gründe und Motive, sich an einer Diskussion zu
beteiligen.
Dass meiner Meinung nach ein Code of Conduct kein "Königsweg" zur Lösung
dieser sozialen Probleme ist, dürfte bekannt sein.
Auch eine Deanonymisierung ist keine Lösung, denn leider werden Hass bis
hin zu Morddrohungen auch unter "Klarnamen" verbreitet. Auch Mobbing
geschieht oft ebenso so offen.
Was hilft: Respekt und Toleranz als selbstverständliche Haltung. Dies
zum Allgemeingut zu machen ist aber eine Frage der (Volks-)Bildung.
Vielleicht ist es ein erster Schritt, wenn unsere Community mit gutem
Beispiel vorangeht.
[0] ein Beispiel: https://de.wikipedia.org/wiki/Teilungsproblem
[1] s. z. B.
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