Re: OT Vertrauen, Strukturen, Technologie (Re: Befreiung der Haushalte , der Behörden, ... von Microsoft-Software)

Roland Hummel roland.hummel at student.hu-berlin.de
So Mai 17 11:10:27 UTC 2020


Hallo Kristian,

um zu antworten muss ich teilweise etwas ausholen. Alle folgenden
Antworten sind zwar nicht mal eben so dahingeschrieben, aber bitte als
"Arbeitsthesen" zu verstehen (dies nur als "Versicherung", weil es immer
etwas heikel ist, auf Mailinglisten ins Plaudern zu kommen).

On 5/14/20 8:14 PM, Kristian Rink wrote:
> kurze Dinge, um das von der Länge her einzufangen: An vielen Punkten
> stimme ich Dir zu, an anderen glaube ich zwar nicht, dass Du falsch
> liegst, habe aber einen anderen Standpunkt.

Ja, gut, damit kann ich selbstverständlich Leben. Ich fand den Austausch
dennoch (oder gerade deswegen) gut, weil es immer gut ist, Einblick in
andere Lebenswirklichkeiten zu bekommen.

> Das wollte ich auch *Dir* nicht unterstellen; entschuldige, wenn das
> falsch ankam. Meine Darstellung war (wie alles andere) sehr klar
> subjektiv. Ich habe in meinem Umfeld viele Leute erlebt, auf die das
> leider genau trifft: Die Snowden-Enthüllungen wurden genutzt, eine
> pauschale und unreflektierte Positionierung contra Polizei, contra
> Geheimdienste, contra USA zu festigen. Kritik halte ich für wichtig,
> aber *unreflektierte* Gemeinplätze helfen in diesen diffizilen Themen
> leider nicht.

OK, verstehe, danke für die Erklärung. Mit "pauschal" meinst Du evtl.
Forderungen wie "Geheimdienste abschaffen!". Was Deine Forderung nach
"reflektierter Kritik" betrifft habe ich folgende Gedanken:
Es ist eine Herausforderung, den kümmerlichen Rest derer, die hier
überhaupt ein Problem sehen, unter einem Motto auf die Straße zu
bekommen, das reflektiert ist und von bisher Unbeteiligten hinsichtlich
der komplexen Thematik verstanden werden kann. Beidem steht die
Komplexität der Debatte erstmal entgegen, was natürlich keine Ausrede
sein darf. Es war allerdings sicher einfacher, einen Konsens dafür zu
finden, die "Stasi-Zentrale" zu stürmen, weil das "Feindbild" hier
klarer war, was wiederum darauf zurückzuführen ist, dass das Regime sich
klass. "hard power" bediente, weswegen es eindeutiger beschuldigt werden
konnte. Neoliberale Regime sind im Vergleich dazu "smart" - sie
"diffundieren" ihr handeln in kaum noch plausibel nachweisbare bzw.
verstehbare Verantwortungszusammenhänge und verführen Freiheit anstatt
sie zu unterdrücken (der Umstand, dass es Unternehmen gibt, bei denen
man Graswurzelbewegungen kaufen kann (bspw. Burson-Marsteller), was sich
dann "Astro-Turfing" nennt, hat für mich einen ganz neuen Blick auf die
vielen "Frühlings-Bewegungen" der jüngeren Vergangenheit geworfen).
Gegen verführte Freiheit hat unser psychologisches Immunsystem keine
natürlichen Abwehrkräfte, weswegen ich den Begriff "Wutbürger" zwar
immernoch völlig daneben, aber insofern etwas Wahres abgewinnen kann,
als für mich "Wut" im Gegensatz zum "Zorn" selten ein bestimmtes Objekt
hat (das in neoliberalen Systemen schwer zu identifizieren ist). Es
liegt jedenfalls an denen, die meinen, mehr Durchblick zu haben, die
berechtigten Objekte von den unberechtigten zu trennen und
niedrigschwellig zu vermitteln ("Wut" also wenn dann in "Zorn" zu
wandeln) - und hier wird es unspaßig, weil das richtig viel Arbeit
bedeutet (und damit Zeit oder Geld kostet), die wir uns selten nehmen
können (noch dazu vor dem Hintergrund, sich in Themen zu verrennen, die
uns gesellschaftliche disqualifizieren können - vor Snowden war das, was
Snowden offenbarte, ja etwas für "Aluhut-Träger*innen", das in keiner
ernsthaften Debatte angesprochen werden konnte). Unter diesen
Voraussetzungen finde ich es jedenfalls erstmal verständlich, warum
einfache Wahrheiten so viel attraktiver sind als komplexe und empfinde
als immense Herausforderung, einer Spaltung der Gesellschaft
entgegenzuwirken, die irgendwie zwischen einfachen Wahrheiten auf der
einen Seite und komplexeren, aber selten niedrigschwellig vermittelten,
polarisiert ist. publiccode.eu ist für mich ein Beispiel wie es besser
geht - es ist eine Meisterleistung, ein so komplexes Thema in nichtmal
5min zu vermitteln.

> Das meinte ich nicht. Was ich meinte: Deine Darlegung beinhaltete, dass
> Du Dich im Umgang mit dem "Kleinkriminellen" (siehe Bankräuber) implizit
> auf das Mitwirken von Institutionen und größeren Autoritäten (der Bank)
> verläßt - denen Du an anderer Stelle sehr explizit Dein Vertrauen
> entzogen hast. Das wirkt zumindest unentschlossen.

Achso, dann nochmal anders: Ilu hat es bereits prägnanter ausgedrückt
als ich es konnte, aber kurz: Geht der juristische Einspruch "nach
oben", wirkt das Rechtssystem meinem Empfinden nach nicht *für* mich,
sondern *gegen* mich. Wir haben hier meiner Meinung nach ein System, das
darauf ausgelegt ist, beständig "nach unten zu treten" (Außnahmen
bestätigen die Regel, es muss ja alles den Eindruck behalten, dass es
theoretisch auch in die andere Richtung geht - so in der Art wie "jede*r
kann Millionär werden" den Anschein von "alle können Millionär werden"
erwecken soll, damit die "Tellerwäscher*innen" brav weiter ihren Job
machen).Der Punkt ist nun der, dass ich natürlich auf Banken angewiesen
bin, weil ich in ein System, das auf Banken angewiesen ist,
hineingeboren wurde. Ich habe durchaus mal gefragt, ob ich mein Gehalt
auch bar empfangen darf mit dem Ziel, meine Miete etc. ausschließlich
bar zu zahlen und dann erfahren, dass ich dafür unterschrieben habe,
darauf zu verzichten, weswegen ich das Experiment "Recht auf Barzahlung"
dann auf unbestimmte Zeit verschoben habe. Wenn mich
"Cyber-Kleinkriminelle" ausrauben, nutze ich also die juristischen
Mittel so wie sie "nach unten" gedacht sind (böse formuliert: den Pöbel
von den kümmerlichen Ansätzen jener kriminellen Machenschaften
abzuhalten, die sich eine Finanz-Elite mit Panama&Co ständig erlaubt).
Das ist hat für mich weniger etwas mit Unentschlossenheit und mehr damit
zu tun, "Kollaborateur" zu sein, weil ich hier den Umstand ausnutze,
dass ein System den Anschein bewahren will, *allgemein* für Recht,
Ordnung und Chancengleichheit zu sorgen. Das muss ich, um nur bei diesem
Beispiel zu bleiben, so lange tun, bis ich einen Weg gefunden habe, mich
von der Abhängigkeit von Banken zu lösen und trotzdem gesellschaftsfähig
zu bleiben (denn auszuwandern ist keine Lösung, wohin auch, wenn jeder
Flecken Erde bereits irgendeinem Herrschaftssystem gehört, das im
Prinzip gleich tickt). Ich bin diesbezüglich für Vorschläge dankbar, die
"entschlossener" sind. ;)

> Mein größtes Problem mit Deiner Argumentation ist: Mir fällt es schwer
> zu verstehen, was Du eigentlich erreichen willst, weil Du (für meine
> Wahrnehmung) mäandrierst zwischen "Sicherheitsargumenten" (der Verweis
> auf Snowden und die Folgen), "Freiheit" (siehe hier) und der Frage nach
> der Unterstützung von Monopolisten und Industrie.

Ich gebe zu, dass "Snowden" für mich anfangs eine Sicherheitsdebatte war
("sicher sein vor Überwachung"). Mittlerweile ist für mich die
dahinterliegende Problematik aber eine reine Freiheits- und Machtfrage:
Wer kontrolliert den digitalen Raum? FLOSS ist für mich ein kleiner,
wenn auch langfristig natürlich unzureichender Ansatz, diese Machtfrage
zugunsten einer freiheitlichen Zivilgesellschaft zu klären.

> Die Diskussion begann mit Microsoft und Co. ... und der Punkt war: In
> bestimmten Bereichen macht Microsoft (wie auch Amazon oder Google)
> derzeit eher Hardware-Lieferanten als Software-Lieferanten oder FLOSS
> Konkurrenz: Auf Azure, AWS, ... kann ich mir mit wenig Aufwand, sagen
> wir, eine Debian-VM hochziehen, auf der ich NextCloud, Matrix,
> OnlyOffice baue, ein Login via root-ssh habe und dort nichtmal einen
> Vendor-Lock-In habe, weil ich (Abstraktions-Ebene VM respektive
> "unterhalb Betriebssystem") diese Dienste denkbar leicht auf anderen
> Anbieter (vielleicht DigitalOcean, Ionos, eine lokale Genossenschaft,
> eigenes Blech) umziehen kann.
> 
> Aus Sicht der Freiheit fehlt mir hier die Perspektive, wo mich das
> einschränkt - außer bei Connectivity (die ist aber privat auch
> black-box) und Hardware (die wir im Verlauf schon als proprietär und
> unkontrollierbar abgeschrieben hatten).

Die Einschränkung erfolgt so lange nicht wie Du mit dem, was du auf der
Hardware, die dir nicht gehört, ins Geschäftsmodell passt. Konzepte und
Ideen, die sich diesen klassischen "Verwertungsimperativen" wirklich
entziehen wollen, haben hier keinen Raum (schon allein deswegen, weil
sie die Dienste evtl. nicht bezahlen können) - sollen sie auch nicht in
einer Gesellschaft, die mit "Freiheit" im Zweifel immer erstmal eine
"Freiheit des Marktes" meint. Solange man sich in dieser Freiheit
arrangieren kann ist das sicher keine Einschränkung. Der Punkt ist, was
passiert, wenn man sich mit dieser Freiheit plötzlich nicht mehr
arrangieren kann. Dann ist die Kette bereits fest installiert.

> Aus Sicht von Vertrauen (*will* ich meine Daten, egal ob VM oder anders)
> bei Microsoft liegen haben??) oder Unterstützung von Monopolisten ("alle
> Welt nutzt AWS") sieht die Wertung gänzlich anders aus. Und ich
> scheitere daran, zu verstehen, was genau Deine Prioritäten sind, was
> Dein Ziel ist... ;)

Gut gefragt, denn die Frage ist in dieser Form weniger geschlossen als
die, mit der viele von uns sicher aufgewachsen sind ("Was willst du denn
später mal werden?") und lässt die meiner Meinung nach viel sinnvollere
Frage zu, die Menschen gestellt werden sollte: "Welches Problem möchte
ich helfen, in der Welt zu lösen?" - und hier wäre meine Antwort:
Jede Generation musste sich vor der nachfolgenden für ein bestimmtes
Versagen rechtfertigen. Klassisches Beispiel: Unsere Großeltern vor
unseren Eltern bezüglich des 3. Reiches.
Jemand mit Eltern aus der ehem. DDR könnte sie vielleicht fragen, warum
sie eine historisch einmalige Chance auf eine neue Freiheit für 100 Mark
Begrüßungsgeld verkauft haben. Eine Frage, die ich von der nachfolgenden
Generation an mich erwarte, ist: Wie konntet ihr zulassen, dass der
digitale Raum in seiner ursprünglichen Form wie Snowden sie beschreibt
("creative and cooperative, rather than commercial and competitive" [1])
zu einem Raum des Überwachungskapitalismus wurde und ihr eure Häuser
freiwillig mit Alexa verwanzt, wenn eure Eltern vorher die
Stasi-Zentrale gestürmt haben oder gegen die Volkszählung demonstrierten?
Snowden war für mich persönlich nur ein Augenöffner für die eigentliche
Machtfrage um Kontrolle von Menschen, die dahinter steht. Ich möchte
jedenfalls vor der nachfolgenden Generation sagen können, alles getan zu
haben, um diese Entwicklung zu verhindern.

Auf jeden Fall gerät der Freiheitsgewinn von FLOSS hier an seine
Grenzen, weil FLOSS auch nur ein Mittel wird, User an sich zu binden
(danke für Deinen Input diesbezüglich, der mir diesen Umstand
konkretisiert hat). An diesem Punkt befindet sich gerade mein Versuch,
weiterzudenken (ich denke bspw. aktuell darüber nach, welche Parallelen
es zur Entwicklung des digitalen Raumes zur Industrialisierung im 18.
Jh. gibt, die meines Wissens mit einer Privatisierung des
Allmende-Besitzes einherging, was die Menschen damals in jene
Abhängigkeit von Industruiellen trieb, die Ähnlichkeit zu jender
Abhängigkeit von IT-Monopolisten hat, in der sich Menschen heute
befinden). Keine Ahnung, wo es hinführt, die Diskussion hier ist auf
jeden Fall aber sehr bereichernd.

Gruß
Roland
[1]
https://www.repubblica.it/esteri/2019/09/13/news/roberto_saviano_edward_snowden_interview-235883649/

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