Wie von integrierenden proprietären IT-Anbietern wegkommen? (Re: Bundesbehörde will Microsoft Teams einsetzen)

Kristian Rink mail at zimmer428.net
Fr Mär 20 05:55:07 UTC 2020


Hallo Roland;


Am Donnerstag, den 19.03.2020, 16:23 +0100 schrieb Roland Hummel:

> ich vestehe, was Du meinst, finde es aber nicht verkehrt, nach einer
> solchen Auseinadersetzung die Sinnhaftigkeit von Lösungen zu
> diskutieren. Die Ökonomie, in der diese entwickelt werden, arbeitet
> ja nicht so, dass sie auf einen Bedarf reagiert, sie erzeugt ihn
> aktiv. 

Naja. Das ist so ein Standard-Argument, leider, und aus meiner Sicht
bestenfalls nur teilweise zutreffend. Viele Entwickler, die an Nutzern
arbeiten, entwickeln ihre Dienste und Features so, dass sie Nutzer
beobachten, mit Nutzerfeedback umgehen, iterativ kleine oder größere
Funktionen 'reinbringen (oder auch wieder 'rausstreichen) und schauen,
wie die Nutzerschaft darauf reagiert, ob die Funktionen verwendet
werden oder nicht. 

Das ist auch *ein* Grund, by the way, warum viele Apps, auch Web-
Anwendungen, Google Analytics oder anderes "Tracking" beinhalten -
nicht weil die Hersteller die Nutzer ausspionieren wollen, sondern weil
die Entwickler herausfinden wollen, wie die Anwender ihre Anwendung
bedienen, welche Funktionen oft, selten, nie verwendet werden, um die
Bedienbarkeit und Benutzerführung zu ändern. Wir haben das selbst in
einem Projekt erlebt, in dem sich (auch über Analytics) gezeigt hat,
dass an einer Stelle ein Bedienfluss so ungünstig gestaltet war, dass
die Nutzer einen Prozess regelmäßig nach dem ersten Schritt abgebrochen
und nochmal zurückgegangen sind, um neu zu starten. Das wurde in einer
Folge-Version angepasst, und kurz nach dem Launch hatten wir in
erschreckend großem Maße Mails von Nutzern, die sich für diese Änderung
bedankt haben. Dazu muss man sich aber mit den Nutzern beschäftigen.
Wenn die Nutzer in-house sind, dann schaut man denen gelegentlich über
die Schulter. Wenn die Nutzer draußen vor Bildschirmen sind, ist dieses
"Über-die-Schulter-Schauen" bedeutend schwieriger. Aber solche Punkte
sind es, die an vielen Stellen die Usability von "professionell"
entwickelten Produkten ausmachen, und wo die FLOSS-Community leider an
vielen Stellen nur daran arbeitet, die auf diesem Weg gewonnenen
Erkenntnisse zu kopieren. Wir ahmen nach, entwickeln aber hier nichts
weiter. 

Und: Wir denken dort gern schwarz/weiß: Die Industrie ist böse.
Tracking ist böse. Orientierung an den Nutzern passiert nur, wenn man
sie durch Geld und Manipulation überzeugt, dass das, was man ihnen zu
bieten hat, das ist, was sie brauchen. Sicher: Die Industrie fokussiert
darauf, ihre Produkte an eine große, größtmögliche Masse zu bringen. In
der Konsequenz: Sehr viele FLOSS-Entwickler arbeiten zum Broterwerb bei
genau solchen Konzernen. Sehr viele Werkzeuge und Frameworks, die heute
für FLOSS-Software-Entwicklung verwendet werden, stammen oder werden
maßgeblich unterstützt von großen Konzernen. Selbst bei der GNOME
Foundation und der FSFE stehen Google in der Liste der "Premium-
Sponsoren", und Mozilla hat Verträge mit Google über die Verwendung als
Suchmaschine im Browser. Und auf der anderen Seite sind leider viele
FLOSS-Projekte letztlich Projekte von Hobbyisten, die Dinge zum Spaß
und aus Enthusiasmus tun, die aber aus diesem Rahmen heraus gar keine
Notwendigkeit oder kein Interesse haben, sich allzu stark auf Endnutzer
zu fokussieren. Dort haben wir viel "Luft nach oben"...


[...]
> wäre das wohl mit wenigen Einstellungen erledigt. Die Apps manuell
> neu einzurichten dagegen ist ein Aufwand, der unnötig dadurch
> torpediert wird, dass Apps wie DAVx5 keine Möglichkeiten bieten,
> Einstellungen zu sichern und in solchen Fällen zu importieren.
> Die Notwendigkeit der mühseligen manuellen Einrichtung wird durchaus
> in Kauf genommen, da verstanden wurde, dass die "Entkoppelung" von
> Services, die Freie Software ermöglicht, in vielerlei Hinsicht eher
> ein Vorteil als ein Nachteil ist. 

Richtig. Das ist ein Beispiel dafür. Usability, Bedienbarkeit,
Nutzerführung werden häufig wahlweise als "unwichtig" belächelt oder
als für kleine FLOSS-Projekte nicht realisierbar bezeichnet. Stimmt
auch ein Stück weit, siehe oben: Eine große Masse der Leute, die in der
FLOSS-Entwicklung aktiv sind, sind eben *Entwickler*. Menschen, die
Code schreiben. Deutlich seltener UI/UX-Experten, Designer oder
Projektmanager. Wenn ich *das* will, dann müsste ich endlich den
wichtigsten und derzeit aus meiner Sicht kritischsten Schritt gehen und
in der Breite akzeptieren, dass "Freiheit" auf dieser Ebene nicht
"kostenlos" sein wird. Um die Freien Apps besser zu bekommen, bräuchte
es Modelle, die es qualifizierten Experten aller Disziplinen erlaubt,
in professioneller Form solche Software zu bauen und zu vertreiben. Das
beißt sich aber mit der gegenwärtigen Herangehensweise, dass
*natürlich* erwartet wird, Freie Software auch "kostenlos" zu bekommen
- in f-droid ist das ja nicht anders, leider. Da habe ich im Moment aus
*genau dieser* Brille lieber noch den Google Play Store, bei dem ich
teilweise FLOSS-Apps *kaufen* kann und weiß, dass ich darüber den
Entwickler ein Stück weit entlohne für seine Arbeit, die Software aber
trotzdem "frei" ist. Wir legen oft Wert darauf, dass "free-as-in-free-
speech" wichtiger als "free-as-in-free-beer" ist, aber die Konflikte
entlang dieser Linie haben wir bislang nicht wirklich aufgelöst... ;)

Viele Grüße,
Kristian



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