"digitale Mündigkeit"

Kristian Rink mail at z428.eu
Di Okt 29 07:48:47 UTC 2019


Hallo auch;

Am Montag, den 28.10.2019, 21:00 +0100 schrieb Benjamin Hagemann:
> 
> ja, das ist definitiv sinnvoll.
> Nur wie kommt man dahin? Die Politiker verstehen das Problem
> ebenfalls nicht. Die muss man gleichsam sensibilisieren.

Richtig. Und dort muss man sich gleichermaßen positionieren zu
Standpunkten wie diesen hier ...

https://www.microsoft.com/de-de/berlin/artikel/digitale-souveraenitaet-durch-partnerschaft.aspx

... und aber, möglicherweise, vorher auch erst einmal zu einem
gemeinsam geteilten Verständnis davon kommen, was "das Problem"
eigentlich genau ist. Können wir das? Das scheint mir manchmal nicht
so, siehe etwa Diskurse wie XMPP vs. Signal vs. WhatsApp in manchen
sozialen Kanälen oder die Frage, ob nun FLOSS wichtiger ist oder eher
nachhaltig finanzierte, wirtschaftliche Geschäftsmodelle, bei denen
sichergestellt wird, daß kein Interesse daran besteht, unethische
Praktiken zu versuchen. Den Konsens gibt es, glaube ich, mitnichten,
insofern fehlt es auch daran, daß man der Politik mit einer Stimme ein
Problem vortragen und Lösungen dazu einfordern könnte.

> 
> Solange aber nicht der normale Consumer das Bewusstsein und darauf
> basierend den Wunsch nach einer datensparsamen Lösung hat, wird sich
> die Politik auch nicht dafür einsetzen. Warum sollte ein Politiker
> ein Unternehmen zu etwas bewegen, was der Masse egal ist? Der Wunsch
> muss von den Wählern kommen.
>

Eigene Erfahrung: Dem Nutzer ist Datensparsamkeit zwar nicht schnuppe,
aber er hat überhaupt keine Idee, was das genau bedeutet, bzw. kann
nicht abwägen, wann "Datensparsamkeit" erreicht ist und wann nicht. Ist
ein Session-Cookie schlecht, das ein Anbieter braucht, um sich zu
merken, daß ich eingeloggt bin? Sind die ?utm-Parameter von Google
Analytics in URLs schlecht? Ist die Übergabe von Kontaktdaten an
WhatsApp schlecht, wenn ich als Gegenleistung eine Aussage darüber
bekomme, welche meiner Kontakte ich über diesen Kanal erreichen kann?

Das ist dasselbe, was ich in meinem Dunstkreis mit Lebensmitteln und
Zusatzstoffen erwarte: Den Leuten ist egal, welche E-Stoffe dort drin
sind. Die Leute wollen auch keine genaue Auflistung der Inhaltsstoffe.
Die *erwarten*, daß sie bei Produkten, die verkauft werden dürfen,
genügend Kontrolle und Regulation gegeben ist, um sicher zu sein, daß
dort bei Konsum keine akute Gesundheitsgefahr besteht - bzw. daß die
Produkte vom Markt genommen werden, wenn dem nicht so ist.

Vielleicht ist dort mein Umfeld speziell - keine Ahnung.


> 
> Ich mein, die bekommen ja schon beim Klimaschutz es nicht hin die
> Wirtschaft zu regulieren... Vorallem erzählen die Lobbisten der
> Dataminer den Politikern, dass sie mehr Daten brauchen.
> 

Ja. Aber das ist mir auch viel zu schwarz-weiß, ehrlich gesagt. Das
passt auch zu dem Kommentar von Merkel und Oettinger. Das, was getan
wird, wird getan. Wir leben in einem globalen Markt, und derzeit
dominieren die Produkte aus US of A auch Europa, siehe Google, Amazon,
Netflix. Und die Nutzer nutzen sie - vermutlich aus einer Mischung aus
Bequemlichkeit, durch Marketing gezüchteten Bedürfnissen und schlicht
dem Umstand heraus, daß die Dinge eben "verfügbar" und leicht
zugänglich sind. 

Und was passiert hier? Nix. Wir gehen den negativen Weg. Wir zwingen
Themen wie die DSGVO in die Welt. Warum zum Henker gibt es noch keine
europäischen Alternativen zu Google, Netflix, Amazon und Co.,
Alternativen, die näher an unseren Ideen von Datenschutz et al sind?
Machen wir nicht. 

Wir versuchen lieber, die Aufgabe der Lösung dieser Themen zu
individualisieren: "Digitale Mündigkeit". Soll der Einzelne sich doch
mit der Politik und den Großkonzernen streiten. Und dort sehe ich in
der Tat Parallelen zum Umgang mit dem Klimawandel: Wir *haben* ein
erkanntes Problem. Aber statt die Leute dahinter zu scharen, die
Politik endlich zu einem sinnvollen, gezielten Handeln zu kommen,
individualisieren wir die Verantwortung für die Lösung und tun das mit
derselben überheblichen Blindheit: Die Leute sollen doch Lastfahrräder
nutzen und endlich auf ihre Autos verzichten. Daß das zwar im
städtischen Raum für gesunde / jüngere Menschen gut funktioniert, mag
sein. Für viele, die außerhalb der Ballungszentren wohnen, funktioniert
das eben nicht in einer Gesellschaft, in der alles (ÖPNV,
Nahversorgung, medizinische Versorgung, Behörden, Arbeitsplätze, ...)
seit Jahrzehnten auf die Idee individuell verfügbarer Mobilität mittels
Pkw aufgebaut wurde. 

Das klingt vielleicht bitterer und frustrierter, als es ist, aber
mitunter verstehe ich es derzeit tatsächlich nicht. Was in all diesen
Bereichen schmerzlich zu fehlen scheint, sind Leute, die die Probleme
der Mitmenschen verstehen und lösen wollen. "Digitale Mündigkeit" ist
genau so ein Punkt: *Wir* haben eine klare Idee, welche Probleme die
Leute um uns herum haben, und wir lösen das für sie. Auf die Idee, mal
für ein paar Monate in den Schuhen eines technisch unbedarften John Doe
zu laufen und die Welt durch seine Augen zu sehen, kommen wir nicht.
Warum eigentlich?


> Da können eine FSFE, ein DigitalCourage, ein CCC und sonst jemand den
> Politikern sonst was erklären - das tun diese seit 20-30 Jahren - und
> wo stehen wir heute?

Richtig. Eine Möglichkeit: Die andere Lobby ist viel stärker als wir.
Andere Möglichkeit: Wenn wir über 30 Jahre die Dinge in der gleichen
Weise tun und die Erfolge bescheiden sind, wäre es *vielleicht* Zeit,
die Art und Weise, wie wir die Dinge tun, zu hinterfragen...?


> "Public Money - Public Code" läuft jetzt etwas mehr als zwei Jahren
> und kommt so langsam bei manchen Politikern an... - meiner
> Wahrnehmung nach.

Ja. Das ist eines der aus meiner Sicht uneingeschränkt positiven
Projekte, das auch am ehesten "greifbar" ist. Davon bräuchte es mehr.
Dezentralisierung müsste letztlich auch über diesen Weg getrieben
werden. Aber eben *geordnet*. Und ich glaube, dort haben CCC et al auch
das Problem, vorbelastet und voreingenommen an die Sache heranzugehen:
Wir sind zu sehr etwa mit Ideen "verbunden", Kontrolle über Dinge zu
haben, indem wir Infrastruktur selbst betreiben, Server selbst
hochziehen und hosten, ... . Das wird (und da sind wir zurück oben) für
John Doe, glaube ich, nie funktionieren. Das Beste, was wir ihm - auch
bei digitaler Mündigkeit - geben können, ist ein Anbieter, der seine
Anforderungen erfüllt und dem er zu Recht vertrauen kann. Anderenfalls
wird er eben bei dem Anbieter bleiben, der seine Anforderungen erfüllt,
auch wenn er dem nicht so gut vertrauen kann. 

Ich glaube, es braucht Alternativen deutlich mehr als Belehrungen. ;)

Viele Grüße,
Kristian



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