FSFE-Matrix-Server (war: zu OT ... - jetzt wieder on topic Kommunikation in FOSS :-))

Roland Hummel roland.hummel at student.hu-berlin.de
Di Okt 8 21:47:48 UTC 2019


Hallo Kristian,

On 10/8/19 2:11 PM, Kristian Rink wrote:

>> Dass freie Lösungen den proprietären Lösungen in der Akzeptanz
>> deswegen hinterherhinken, weil sie auf bestimmte Bedürfnisse
>> schlecht, gar nicht oder zu spät eingehen, mag in der Diagnose auf
>> den ersten Blick stimmen, berücksichtigt aber nicht das Problem, dass
>> unser Wirtschaftssystem nicht *reagiert*, sondern diese bewusst
>> *herstellt*. Das meinte ich mit "induzierter Bequemlichkeit": User
>> werden bewusst so erzogen, dass sie unfreie Lösungen bevorzugen. 

(sry, es fehlte btw ein Wort im Satz: "...dass unser Wirtschaftssystem
nicht *auf Bedarfe* reagiert, sondern diese bewusst herstellt...")

> Obgleich Du ein Stück weit recht hast, lass es mich kurz bewußt hart
> formulieren: Genau diesen Punkt nutzen wir, wie mir scheint, auch gern
> als Ausrede, um uns mit diesem Thema nicht auseinandersetzen zu müssen,
> mutmaßlich wohl auch, weil es die Aufgaben komplizierter werden läßt an
> Stellen, an denen sie keinen Spaß mehr machen. Es ist leicht, auf der
> grünen Wiese einen neuen Client mit der aktuell gerade als "hip"
> einzustufenden Technologie hochzuziehen. Es ist unendlich viel
> schwerer, so ein Werkzeug mittelfristig / strategisch zu einem Tool
> werden zu lassen, das im Blick auf Usability, Stabilität, Verfügbarkeit
> so poliert ist, daß es auch jemand mit wenig bis keiner Computer- oder
> Technologie-Erfahrung damit arbeiten kann oder will.

Da stimme ich vollkommen zu, ist aber auch nicht der Punkt, den ich
meinte. Der von Dir angesprochene Punkt hat eher etwas damit zu tun, ob
eine Dev-Community der Admin-Community genügend Doku und Tools
bereitstellt sowie mit ihr ausreichend gut kommuniziert, damit Admins
die Infrastrukturen möglichst ohne große Hürden betreiben können.

> Gegenschluß: Ich habe Leute in der Verwandtschaft (Generation 70+), die
> mit Computern nie ihren Frieden hatten, die Dinger allenfalls
> dienstlich auf dem Schreibtisch genutzt und dort eher geächtet hatten.
> Diese Leute haben jetzt Smartphones zu Hause, auf denen sie
> eigenständig komplett ohne die Hilfe der "Wissenden" in der Familie
> WhatsApp, Facebook, Instagram installiert und aktiviert bekommen, sich
> mit Leuten digital vernetzen, die sie vorher nie und nimmer erreicht
> hätten. Das hat nix mit induzierter Bequemlichkeit unfreier Lösungen zu
> tun. Das ist eine digitale Selbstständigkeit, die sie mit keiner(!)
> freien, dezentralen Lösung jemals zu erreichen imstande wären. Mit XMPP
> oder auch Matrix hätten sie (a) immer die Abhängigkeit von einem
> Experten, der ihnen das einrichtet und pflegt - was nervig ist, wenn
> der Client im Urlaub "kaputtgeht" und der Neffe, der das heilen kann,
> 500km weit weg ist, und (b) dann immer einen deutlich eingeschränkten
> Kontaktkreis, weil aus ihrer Freundes- und Kontaktliste diese Dienste
> niemand nutzt. So lang nicht mindestens letzteres Problem befriedigend
> gelöst ist, ist hier eine extrem breite Zielgruppe, für die Anwendungen
> außerhalb der Walled Gardens praktisch nutzlos sind.

Gegenargument: Nenn mir einen, der, als E-Mail massentauglich wurde (und
diverse Provider für ihr Angebot sogar im Fernsehen geworben habe),
nicht mit der Verwendung von E-Mail klar kam. Es war für jeden Menschen,
der irgendwie Maus und Tastatur bedienen konnte, intuitiv, dass es sich
hierbei um ein föderales Netzwerk mit entsprechenden Provider- und
Client-Freiheiten handelt (also ohne, dass diese Menschen explizieren
konnten, was die Wörter "föderal", "Client" und "Provider" eigentlich
bedeuten.
Doch dann kam "die Industrie" und hat sich überlegt, wie man dieses
Freiheitsprinzip unterwandern kann und schwups kann der selbe Typ Mensch
eine Generation später nicht mehr mit E-Mails umgehen - oder weiß in
manchen (sogar hochindustrialisierten) Teilen der Welt nichtmal mehr,
was eine E-Mail überhaupt ist (Süd-Korea ist ein gutes Beispiel dafür).
Am Bsp. E-Mail: Wenn ein Mail-Provider der damaligen Generation
vermittelt hätte, dass sie bei diesem Provider nur an User des selben
Providers schreiben können, hätte jeder intuitiv gesagt "Moment mal, so
funktioniert doch E-Mail nicht!". Irgendwie hat es die Industrie
geschafft, das, was einmal intuitiv war, zu verdrängen.

Was die Niedrigschwelligkeit entsprechender Alternativen betrifft, zeigt
Matrix mit Riot ebenfalls, wie man das eine tun kann, ohne das andere zu
lassen: Wer absolut keine Ahnung hat oder haben will, installiert sich
Riot auf dem Smartphone, wird aufgeforder "E-Mail oder Nutzername oder
Telefonnummer" sowie ein Passwort einzugeben (wird also "Telefonnummer"
wählen) und ist angemeldet (damit zwar nicht aufgeklärt, aber wenigstens
schonmal dort, wo er vorzugweise sein sollte, also einem föderalen
Netzwerk). Dass das Proof-of-Concept ist, kann ich insofern bestätigen,
weil mein "70+-Umfeld" teilweise schneller angemeldet war als ich ihnen
die Zugangsdaten für die auf meinem Server angelegte Matrix-ID mitteilen
konnte.

>> Ich habe das an mir selbst beobachten
>> können, weil ich in der Prä-Snowden-Ära (also bis Mitte 2013) selbst
>> alles genutzt habe, was der Markt an proprietären Lösungen hergab.
>> Der Wechsel kam einer Selbst-Amputation meiner digitalen Gliedmaßen
>> gleich, nur um dann festzustellen, dass ich diese eigentlich nie
>> gebraucht habe[...]
> 
> Das ist eine (leider) sehr individuelle Beobachtung, die ich mir hier
> manchmal wünschen würde, aber nie habe. So eklig es ist: Die
> überwiegende Mehrzahl der Menschen in meinem Umfeld nutzt WhatsApp.
> Punkt, Ende. Ein paar Enthusiasten verwenden Signal, einige Threema,
> einige Wire. Ansonsten hat WhatsApp hier SMS ersetzt. E-Mail war in
> meinem Umfeld ohnehin nie ein relevantes Medium und eher mit Brief
> gleichgesetzt. Deswegen hb ich hier leider eine andere Sicht.

Über den krassen IST-Zustand brauchen wir natürlich nicht zu streiten.
Es ging mir darum, dass ein krasser Zustand eben manchmal krasse
Gegenmaßnahmen verlangt und die sehe ich nur in einem krassen "Nein!" zu
all diesen Diensten, sofern dieses "Nein!" mit einem freundlichen,
verständnisvollen und geduldigen Angebot einhergeht, Alternativen zu
erklären.

>> Okay, aber so können wir das Kapitel "Rest-Föderalismus im digitalen
>> Raum" völlig begraben. Die Lösung für die großen digitalen Fragen
>> heißt meiner Meinung nach nicht "*weniger* Föderalismus durch freie
>> Software", sondern "*mehr* Förderalismus durch freie Software" (ja:
>> die auf den funktionalen Bedarf, sei er gerechtfertigt oder nicht,
>> adäquater reagiert). 
>>
> 
> Ich sehe das Problem nicht, ehrlich gesagt. "Software" und "verfügbarer
> Service" sind zwei paar Schuhe, und der robuste 24x7-Betrieb eines
> Stücks Software ist eine gänzlich andere Herausforderung als das
> "Ausprogrammieren" von Code. Warum sollte man das nicht getrennt
> betrachten? Ich *will* FLOSS und offene Standards. Ich *will* auch
> Förderation, weil ich eigentlich keine "walled gardens" möchte. Aber
> ich *will* auch eine Möglichkeit, mir so eine Lösung einkaufen zu
> können, ohne das Wissen, die Prozesse, die Ressourcen (Leute, Hardware,
> ...) im Haus vorhalten zu müssen. Aus meiner Sicht ist es ein
> Kardinalfehler, daß wir als Alternative zu Cloud-Diensten nur
> "selbstbetriebene Freie Software" sehen, uns scheinbar aber die
> Fantasie zu "ethisch und professionell gehosteter Freier Software"
> fehlt. 

Okay, da gehe ich mit, allerdings wollte ich darauf hinaus, dass der
Unwille, noch irgendetwas selbst zu betreiben, meiner Meinung nach vor
allem daran liegt, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen so gestrickt
werden, genau diesen Unwillen zu erzeugen.

Gruß
Roland
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