ARD-Sendung zu Microsoft am Montag Abend

Roland Hummel roland.hummel at student.hu-berlin.de
Sa Feb 24 10:29:17 UTC 2018


Hallo Michael,

On 02/24/2018 09:53 AM, Dr. Michael Stehmann wrote:
> mir erscheinen Deine Argumente zu negativ. Einen freiheitsliebenden
> Menschen mit einem körperlich behinderten zu vergleichen, erscheint mir
> in verschiedener Hinsicht "schräg" (Inklusion für Freiheitsfreunde?).

das wäre die (zugegeben mögliche) negative Les-Art meiner Aussage. Ich
habe allerdings bewusst nicht das Wort "Behinderung" oder Abwandlungen
davon (wie "behindertengerecht") genutzt, sondern "barrierefrei"
gewählt, um eben das meiner Meinung nach zentrale positive Anliegen
Freier Software herauszustellen: Freie Software erzeugt auf vielerlei
Ebenen keine (digitalen) Barrieren und User Freier Software sind
diejenigen, die sich für eine grundsätzliche Barrierefreiheit
("grundsätzlich" in Form von "Offenheit") im digitalen Raum einsetzen.
Es mag sein, dass "barrierefrei" aufgrund der Konnotation auch nicht die
beste Wortwahl ist, vielleicht wäre besser: "Freie Software schließt
niemanden aus", aber die Wortwahl passte in folgender Überlegung:

Um zu verdeutlichen, was digitale Barrieren sind, braucht es allgemein
bekannte Bilder wie die barrierefreien Zugänge in öffentlichen Gebäude,
die jede*r als selbstverständlich empfindet und kennt. Diese
Selbstverständlichkeit für Barrierefreiheit im "Realraum" ist deswegen
wichtig, weil das erste Argument gegen Freie Software meist die Frage
ist, wieviele eine Freie Software X überhaupt nutzen würden. Anhand
meines "schrägen" Beispiels lässt sich dann wunderbar aufzeigen, dass
diese Frage in einer freiheitlichen Gesellschaft völlig unangebracht
ist, weil man dann auch fragen müsste, ob sich die Investition für einen
barrierefreien Zugang in Anbetracht der möglichen "Nutzerzahlen"
überhaupt lohnt.

> Wenn man Alternativen beispielsweise zu Whatsapp propagiert, sollte man
> deren Vorzüge herausstellen, wozu dann auch Unabhängigkeit und
> Datenschutz gehören können.

Unabhängigkeit wäre vielleicht noch ein Argument, aber aus meinen
Erfahrungen mit IT-Leiter*innen kommt dann meist die Antwort, dass man
lieber abhängig von einem Großkonzern sei, den man juristisch belangen
könnte, als von einem Community-Projekt. Das Argument verwende ich daher
nicht mehr, weil man sich damit in Sackgassen navigiert, aus denen man
schwer wieder herauskommt (oder es endet damit, sich gegenseitig
irgendwelche Statistiken oder Studien vorzuhalten, die eh niemand
nachvollziehen kann oder will).
Zum Datenschutz: falls Du juristischen Datenschutz meintest, ist das für
mich ebenfalls kein Argument mehr, das ich in meinen Diskussionen
anführe: das Wort zu erwähnen reicht schon und in die Antwort ist:
"Haben wir alles prüfen lassen, unser*e Datenschutzbeauftragte*r hat das
durchgewunken - juristisch ist das sauber!" -> Schachmatt.
Für mich ist "Datenschutz" spätestens seit Caspar Bowdens (leider sehr
dichtem) CCC-Vortrag "The Cloud Conspiracy" (
https://media.ccc.de/v/31c3_-_6195_-_en_-_saal_g_-_201412272145_-_the_cloud_conspiracy_2008-2014_-_caspar_bowden
) kein Argument mehr, denn platt formuliert: Im Datenschutz wird das
verankert, was die Konzerne vorher festgelegt haben. Das kommt mir
allerdings auch insofern gelegen, weil Datenschutz sich auf Texte
bezieht, die für eine gesellschaftliche Elite geschrieben wurden, zu der
ich nicht gehöre -> taktisch unkluges Terrain für mich.

Das einzige Argument, mit dem ich erfolgreich überzeugen konnte, war
das, was in der "westlichen Wertegemeinschaft" mit unglaublicher
Scheinheiligkeit immer als Propaganda-Begriff verwendet wird (und zwar
gesamtgesellschaftlich): der Bezug auf höhere Werte, an deren Spitze die
"Freiheit" steht...

> (Im Übrigen bin ich leider zu der Erkenntnis gelangt, dass man mit einer
> totalitären Regierungsform zu wenige abschrecken kann, weil sich zu
> viele danach sehnen.)

...weswegen ich Deine Aussage nicht ganz nachvollziehen kann. Wann immer
auf ARTE mal wieder eine dieser wunderbar suggestiven Nordkorea-Dokus
läuft, heißt es am nächsten Tag "Hast du die Nord-Korea-Doku gesehen? So
krass.. wie kann man dort nur leben, unglaublich!".
Will sagen: mit diesem ständigen Bezug auf den höheren Wert der Freiheit
wird mit dem Finger auf Russland, China und Nord-Korea gezeigt - alles
fest in den Köpfen verankerte Symbole der Unfreiheit. Da also
"Freiheitsliebe" das Argument ist, was in allen Köpfen verankert ist
(obgleich zwecks Ausbeutung natürlich seduktiv unterwandert), sage ich:
"Wunderbar, dann lasst uns doch mal schauen, ob unser digitaler Raum
diesen freiheitlichen Ansprüchen gerecht wird oder nicht doch eher einem
"digitalen Nord-Korea" gleicht."
Dieses (wieder "schräge") Argument ist das einzige, was "gezündet" und
dazu bewegt hat, dass meine Mitmenschen ihr "iPhone" und ihre "Alexa"
plötzlich anfingen, mit anderen Augen zu bewerten (und "funktioniert
gut" plötzlich nur noch ein Kriterium neben vielen überhaupt nicht
reflektierten war).
_Danach_ konnte ich mich mit meinen Mitmenschen meiner Meinung nach erst
sinnvoll darüber unterhalten, was Datenschutz eigentlich sein sollte
(und aktuell nicht ist), von wem genau man unabghängig sein sollte bzw.
sich schützen sollte und welchen Stellenwert Usability/Benutzungskomfort
in einer freiheitlichen Perspektive haben sollte (jedenfalls nicht
ernsthaft den obersten).
Das deckt sich meiner Meinung auch wunderbar mit den 4 Freiheiten: da
geht es nicht um Unabhängigkeit, nicht um Datenschutz, nicht um
IT-Sicherheit, sondern darum, Barrieren abzubauen, indem "Zugang" zu
allem dauerhaft gewährleistet wird und sich deswegen sinnvoll über
andere (keineswegs völlig unwichtige) Bewertungskategorien von Software
unterhalten werden kann - aber nicht andersrum.

Schönes Wochenende
Roland

-------------- nächster Teil --------------
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