Demokratische Mitbestimmungsverfahren (was: Verhaltensregeln reloaded)

Erik Albers eal at fsfe.org
So Nov 6 19:31:45 UTC 2016


Hallo Wolfgang,

Am 04/11/16 um 17:58 schrieb Wolfgang Romey:
>> Nicht "die" haben etwas entschieden, sondern es wird diskutiert, ob die
>> Community der FSFE bestimmte, eigentlich selbstverständliche, Regeln
>> explizit anerkennt.
>>
> 
> Wie soll das Anerkennen denn vor sich gehen? Wenn ich das richtig sehe,
> gibt es kein verbindliches demokratisches Verfahren in der FSFE, mit dem
> die Fellows ihre Zustimmung oder Ablehnung in einer Art Abstimmung,
> deren Ergebnis verbindlich ist, kundtun können. Es ist zwar gut und
> sollte selbstverständlich sein, daß die Fellows um ihre Einschätzung
> gebeten werden, ein demokratisches Mitbestimmungsverfahren ersetzt das
> aber nicht.

Das mit den demokratischen Mitbestimmungsverfahren ist manchmal leichter
gesagt als getan. Mal abgesehen von der technischen Infrastruktur ist auch das
System "demokratische Abstimmung" voller Tücken.

Sagen wir mal wir würden von Scratch anfangen und würden also erstmal eine
demokratische Abstimmung darüber haben wollen, ob wir überhaupt einen CoC
haben wollen oder nicht. Erste Frage ist dann: wen fragen wir?
Alle Fellows? Klingt vernünftig aber ein sehr großer Teil der Fellows nimmt
überhaupt nicht an unseren Mailinglisten teil. Ist es dann fair, wenn diese
über einen CoC der sich auch auf unsere Mailinglisten bezieht abstimmen?
Also besser alle Mailinglisten-Abonennten? Darunter befinden sich aber viele
die nicht Fellow der FSFE sind. Ist es dann fair, dass diese über
Charakteristiken der Infrastruktur der FSFE entscheiden?
Dann vielleicht alle Fellows und alle Mailinglistenbezieher? Mal abgesehen von
einer nicht zu unterschätzenden Aufgabe an die technische Infrastruktur ist
die zweite Gruppe um einiges größer als die Zahl der Fellows. Womit diese den
Wahlausgang schließlich dominieren. Es ergibt sich also wieder das gleiche
Problem der Unverbundenheit der Wähler.

Und jetzt noch die Meta-Frage: Wer entscheidet denn eigentlich nun zwischen
diesen Optionen, also darüber, wer an der Wahl teilnehmen darf? Kann diese
Meta-Frage überhaupt demokratisch bestimmt werden?

Nicht zu vergessen: Ab wann wäre die Abstimmung für gültig zu erklären? Also
wie viel Prozent der Wähler sollten an der Wahl teilnehmen, damit wir von
einer Mehrheitsentscheidung sprechen können? Müssen das mindestens 50% sein?
Wenn wir die Teilnehmerzahlen bei den Fellowship-Wahlen anschauen, dann sind
allerdings 20% bereits eine ordentliche Hürde. Was ist wenn es nur 10% sind
oder noch weniger? Können wir dann von einer demokratischen Entscheidung sprechen?

Und dann sagen wir mal wir könnten irgendwie eine Entscheidung finden, dann
kann diese nur ein Kompromiss sein. Dann wird es definitiv eine Gruppe geben,
die mit dieser Entscheidung nicht einverstanden sein wird. Und sagen wir mal
die Wahl würde dann pro eines CoC ausfallen. Wer sollte dann diesen CoC
ausarbeiten? Sind Arbeitsgruppen, die sich um die genaue Ausformulierung eines
Textes beschäftigen und mehr als 100 Teilnehmer haben effektiv denkbar?

Und sagen wir mal sie würden es schaffen, einen CoC auszuarbeiten. Dann fängt
das Spiel von vorne an und die Frage stellt sich wieder wer darf denn nun über
diese Version des CoC abstimmen? Fellows, Mailinglisten-Abonennten oder noch
jemand anders?

Zum Abschluss, auch wenn das vielleicht nicht von jedem gerne gehört wird,
muss man bei dem gesamten Vorhaben auch ein bißchen die Effektivität im Auge
behalten. Das oben beschriebene Vorgehen würde für unsere Mitglieder und
Angestellen einen erheblichen Zeitaufwand bedeuten (pro Person und in Summe
werden das schnell tausende Stunden). Wir sind jedoch nicht die "Abstimmung
über einen CoC" Verein, sondern die FSFE und ich denke wir alle möchten unsere
Zeit lieber in die Förderung Freier Software investieren.


> Letztlich können die, die das entscheiden können oder müssen (wer ist
> das?), eine Entscheidung treffen, die mit dem Meinungsbild der Fellows
> nichts zu tun hat. Da reicht auch keine Zusicherung,das würde man nicht
> machen.

Ich habe den CoC auf die Bitte einiger Fellows angefangen auszuarbeiten. In
mehreren Runden hab ich von der Koordinatoren-Liste und der Team-Liste Input
bekommen und eingepflegt. In seiner aktuellen Version wurde er schließlich
ohne Gegenstimme innerhalb der Koordinatoren-Liste und der Team-Liste angenommen.


> Ich frage mich, wie weit ich als Fellow dann daran gebunden bin und wie
> Fehlverhalten sanktioniert würde.

Ich gehe davon aus, dass sich in der Praxis nichts ändert, weil wir den Segen
haben, dass wir zu 99% respektvoll und gepflegt miteinander umgehen. Wenn dann
einer die Grenze übertritt, dann dann wird er eben wie jetzt darauf hingewiesen.
Erst bei mehrfachem oder dauerhaftem Überschreiten sollte eine Sanktionierung
erfolgen. Wie diese dann genau Aussieht sollte man im Einzelfall entscheiden.


> Ihr seht erneut, daß ich mir andere Strukturen in der FSFE wünsche, bin
> allerdings unter den bisherigen Strukturen beigetreten, darf mich also
> eigentlich nicht beklagen,

Es dürfen gerne Wünsche geäußert werden. Ich empfehle dazu bei allen
Überlegungen auch die Realisierung im Hinterkopf zu behalten, und dass die
FSFE Community inzwischen eine beachtliche Größe erreicht hat und sich zudem
über verschiedene Sprachen, nationale Gesetze und Kulturräume ausbreitet.

Beste Grüße,
   Erik

-- 
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