Verhaltensregeln reloaded

Franz Seidl fseidl at f9s.eu
Do Nov 3 12:10:56 UTC 2016


Hallo liebe Freunde und Freundinnen freier Software,

ich habe gerade mehrere Erwiderungen für den "Verhaltensregeln" Thread
geschrieben, umgeschrieben, bin den Thread nochmal durch gegangen - und
habe alle wieder gelöscht. Ich glaube, man hat sich erst gründlich
missverstanden und dann im Eifer davon tragen lassen. Das waren mir zu
viele verschiedene Stellen, an denen ich hätte einhaken wollen.

Ich glaube aber, dass es ein Fehler wäre, diese Auseinandersetzung
unverstanden zu den Akten zu legen. Dieser Fehler könnte der FSFE
langfristig großen Schaden zufügen. Es sind zwei grundlegende
Geisteshaltungen kollidiert und zumindest die eine Seite hat - so
scheint mir - nur verstanden, dass die andere Seite irgendwie auf
Krawall gebürstet ist.

Vorab bzgl. dem Auslöser des Auslösers, also der sehr emotionalen Mail
mit der Fäkalsprache: An mir ist vor kurzem folgender wie ich meine
lesenswerte Text vorbei geschwommen:
http://bulletin.kenyon.edu/x4280.html

Jetzt zum "Code of Conduct" (CoC).

Erik schrieb uns am 01.11.2016 um 18:12 Uhr, dass ein "Code of Conduct"
für die "Community" in Arbeit ist. Die Mail macht den Eindruck, als ob
er dafür freudige Zustimmung erwartet. Verständlich, schließlich hat das
Kernteam und er selbst als Fellowship Koordinator Proaktivität bewiesen
und kann just als es zu einer Verfehlung kommt, auf die praktisch
fertige Lösung verweisen. Der noch warme Fall von Keyboard-Tourette
zeigt ja, dass es einen Code of Conduct braucht.

Die gegenteilige Reaktion erfolgt auf der Liste. Ich selbst erschrecke,
als ich Eriks Verkündung lese.

Warum?

Fangen wir mit den einfachen Aspekten an, damit sie aus dem Weg sind.
(Ok, es gibt keine wirklich einfachen Aspekte.)

Ich gestehe: Ich habe ein Problem mit Autoritäten. Speziell solchen, die
ich nicht in diese Rolle eingeladen habe. Wahrscheinlich habe ich als
Fellow an der Peripherie und in der Diaspora, der noch nicht lange dabei
ist, eine andere (falsche?) Vorstellung vom Verhältnis zwischen Fellows
und e.V./Kernteam. Ich sehe das so: Mein Hauptbeitrag ist eine
bescheidene aber regelmäßige Spende. Diese Spende erfolgt, damit
bestimmte Themen voran gebracht werden. In der Hauptsache finanziert sie
die Frühstücksbrötchen der Leute, die dieses Voranbringen hoffentlich
besorgen.
Nun kommt Erik: "Fellows, singt Hallelujah denn wir haben unsere Zeit
(und damit euer Geld) benutzt, euch Regeln zu geben!".
Mein erster Gedanke: "Du hast mir überhaupt nichts vorzuschreiben!"
Mein zweiter Gedanke: "Die sprechen *mir* das Misstrauen aus. Wie kommen
die darauf mir zu unterstellen, ich bräuchte eine schriftliche
Einweisung in gutes Benehmen?"
Mein dritter Gedanke: "Moooment, das habt ihr in eurer Freizeit gemacht,
oder? Fixt mal eure Freund-Feind-Erkennung und geht jagen!"
Mein vierter Gedanke: "Wozu soll der CoC gut sein? Die, die ihn
bräuchten, werden ihn nicht lesen oder im entscheidenden Moment
verdrängen (Stichwort: Keyboard Tourette). Die, die ihn lesen, hätten
sich auch so benommen."
Ich meine das nicht böse. Und vielleicht ist der CoC ja doch total
wichtig, aber Halleluja singen mag ich jetzt grad nicht.

Das Argument, "wir kommen besser an Fördermittel wenn wir den CoC
haben", lasse ich voll gelten.

Wenn es das wäre: Schwamm drüber.

Der Grund, warum ich erschrocken bin ist ein anderer und hat wenig mit
dem CoC oder seinen Inhalten zu tun aber sehr viel damit, wie er von
Erik und Max begründet und verteidigt wurde.

Max, Erik, mir scheint, ich habe ein grundsätzlich anderes Menschen- und
Gesellschaftsbild als ihr.
Meines ist ein egalitäres, eures ein autoritäres.
Ich glaube, dies ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der CoC
Befürworter und Gegner auf der Liste.

Und: Ich glaube, sich für das falsche Menschenbild zu entscheiden, kann
eine Organisation ruinieren. Zumindest kann es verhindern, dass sie
ihren eigentlichen Zielen gerecht wird.

Wie ich es verstehe (Philosophen und Politikwissenschaftler, kusch, geht
woanders spielen; ich weiß, dass ich hier wahrscheinlich
Lehrbuchbegriffe vergewaltige):

Egalitär: Menschen sind zwar unterschiedlich, ihnen stehen für die
gesellschaftliche Partizipation aber die gleichen Möglichkeiten offen.
Wenn die Menschen wegen ihrer individuellen Unterschiede dies
unterschiedlich gut können, so ist das eben so. Wenn eine schüchterne
Person gehört werden will wie eine extrovertierte Person, so hat sie
selbst eine Entwicklungsaufgabe (und ich weiß in diesem Punkt, wovon ich
rede). Es ist nicht die Gesellschaft die verpflichtet wäre, alle anderen
einzuschränken um das Gefühlsleben des Schüchternen zu modulieren.
Vielmehr kommt jedem Einzelnen auch die Verantwortung für seine eigenen
Emotionen zu.

Autoritär: Menschen sind unterschiedlich, darüber hinaus aber in zwei
Gruppen geteilt: Die Starken und die Schwachen (Wortwahl von Max). Die
Starken sind für ihre Emotionen selbst verantwortlich. Die Schwachen
sind für ihre Emotionen nicht selbst verantwortlich. Die Gesellschaft
oder konkrete Kommunikationspartner aus der Gruppe der Starken sind
verantwortlich. Wenn ein Schwacher Angst hat oder unglücklich darüber
ist, dass Starke mehr Einfluss haben als er, so ist es nicht seine
eigene Aufgabe, sondern Aufgabe der Gesellschaft dafür zu sorgen, dass
diese negativen Gefühle weg gehen. Es muss also eine Zentralgewalt
geben, welche die Starken einschränkt, damit sich der Schwache besser
fühlt. Der Maßstab ist die Emotion des Schwachen.

Mit den Begriffen Starke/Schwache bin ich nicht wirklich zufrieden, aber
es knüpft so schön an Max' Erläuterung im anderen Thread an.

Möglicherweise habe ich mit dem autoritären Menschenbild, das ich Max
und Erik unterstelle, einen feinen Strohmann gebaut. Ich freue mich auf
die Richtigstellung.

Ich halte den oben als "Autoritär" bezeichneten Ansatz für gefährlich
und dumm. Er wird weder den "Schwachen" gerecht, denen Selbstständigkeit
und Eigenverantwortlichkeit abgesprochen und abtrainiert werden, noch
den "Starken", denen eine Verantwortung aufgebürdet wird ohne auch die
entsprechende Macht mitzugeben. Nämlich die Verantwortung für den
Emotionshaushalt der Schwachen, mit denen sie interagieren.

Ich halte es für höchst zweifelhaft, für einen Teil der Menschheit
pauschal Schutz- und Förderungsbedürftigkeit zu unterstellen.

Ich halte es für falsch, wenn sich eine Organisation, die etwas ganz
anderes tun will - nämlich freie Software fördern - sich anmaßt die
notwendige Zentralgewalt zu sein.

Richtig ist natürlich, dass bloß weil es ein Blatt Papier mit der
Überschrift "Code of Conduct" gibt, auf dem steht "Wir haben uns alle
lieb", noch kein pathologischer Zustand erreicht ist. Der Unterschied zu
vorher ist: Es gibt jetzt ein Gesetz, auf dessen Basis man Leute
anzeigen kann. Der vorstehende Satz ist auch das einzige "Klare" daran.
Anders formuliert: Der CoC ist eine neue Waffe, die ins Spiel gebracht wird.

Warum die Aufregung, wenn noch kein pathologischer Zustand erreicht ist?

Wenn meine Vermutung mit dem Menschenbild stimmt, geht es in diese
Richtung weiter. Wehret den Anfängen.

Andere, speziell einige amerikanische Hochschulen, sind schon weiter,
und es scheint nicht hübsch zu sein. Generell scheint die Entwicklung
dahin gegangen zu sein, dass Leute glauben, sie hätten ein Recht darauf
nicht mit abweichenden Meinungen belästigt zu werden.
Auseinandersetzungen werden nicht inhaltlich, sondern dreckig über Bande
- die Zentralgewalten - mit Anschuldigungen und Erpressung geführt. Dort
wird die Waffe CoC auch eingesetzt. Stichworte Political Correctness,
Safe Spaces (vgl. Erik "Raum für eine Diskussionskultur erschaffen ...
friedvoll"), Trigger warnings, culture of victimhood, Opferolympiade,
Social Justice Warriors (SJW).
Falls es dort nur halb so schlimm ist, wie es sich anhört, wollen wir da
glaube ich trotzdem nicht landen.

Liebe Grüße,
Franz




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