Für proprietäre Software zahlen, schlechtes Gewissen?

RA Stehmann anwalt at rechtsanwalt-stehmann.de
Mi Jun 24 08:07:41 UTC 2015


Hallo,

worum geht es bei Freier Software? Um die Freiheit des Nutzer.

Moralisch in die Verantwortung genommen wird der Entwickler, der um der
Freiheit des Nutzers willen seine Software unter einer Lizenz verbreiten
soll, die dem Nutzer bestimmte Freiheiten einräumt.

Für den Nutzer stellen sich erst einmal praktische Fragen: Kann ich
beispielsweise unter Wahrung hinreichender Sicherheit meines Systems
Software einsetzen, deren Quelltext studiert werden kann?

Kann ich Software einsetzen, die nicht Offene Standards implementiert?
(Es gibt auch proprietäre Software, die Offene Standards implementiert.)

Letztlich ist das jeweils eine Abwägung im Einzelfall, die zwar ein
Problembewusstsein erfordert, aber eher nicht moralischer Natur ist.

Moralisch wäre die Frage: Kann ich Software von Entwicklern einsetzen
und diese durch meine Lizenzzahlungen unterstützen, die sich in meinen
Augen unmoralisch verhalten, weil sie den Nutzer wichtige Rechte
vorenthalten und diese wenn möglich in Abhängigkeitsverhältnisse zwingen
wollen?

Die christliche Lehre von der Erbsünde besagt, dass der Mensch
notwendigerweise von Anfang an in sündhafte Verhältnisse verstrickt ist,
was er zu erkennen vermag. Wer kann schon wirklich guten Gewissens
beispielsweise einen Computer nutzen, wenn er weiß (also eine Frucht vom
Baum der Erkenntnis "genascht" hat), unter welchen Bedingungen und
Umständen derzeit Computer hergestellt und die hierzu notwendigen
Rohstoffe gewonnen werden?

Aus dem Vorstehenden folgt, dass proprietäre Software genutzt werden
kann, wenn es hierfür gute Gründe gibt.

Wenn ich eine bestimmte Funktionalität brauche, es keine Freie Software
gibt, die diese bietet, ich kein Entwickler und auch nicht in der Lage
bin, eine entsprechende Entwicklung zu finanzieren, kann mir kein
moralischer Vorwurf bei der Nutzung proprietärer Software gemacht
werden, da es kein zumutbares Alternativverhalten gibt. Wenn es die
Freiheit der Wahl nicht gibt, erscheint der Vorwurf einer Entscheidung
gegen die Freiheit sinnlos.

Bequemlichkeit ist kein guter Grund.

Bequemlichkeit ist genau das "Feature", mit dem fast immer Leute in die
vendor-lock-in-Falle gelockt werden.

Bequemlichkeit durch Kontrollverlust zu erkaufen, erscheint mir daher
moralisch zweifelhaft, es sei denn, der Produktivitätsgewinn wäre so
überragend hoch. dass er andere Gesichtpunkte in den Hintergrund drängt.

Also letztendlich in extremen Fällen wieder eine Abwägung im Einzelfall.

Leider lässt sich das Leben auch in moralischer Hinsicht nicht mit ein
paar einfachen Regeln (beispielsweise: "Nutze keine proprietäre
Software!") steuern, es sei denn, sie wären so allgemein ("Ama et fac,
quod vis!"), dass ihre Anwendung im Einzelfall großer gedanklicher
Anstrengungen bedarf.

Gruß
Michael




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