Selbstständig machen mit freier Software

Paul Hänsch paul at fsfe.org
Sa Jul 5 12:52:10 UTC 2014


On Sat, 05 Jul 2014 06:06:07 +0200
David Rabel <david.rabel at gmx.de> wrote:
> ich hoffe die Antwort auf die Frage ist nicht zu offensichtlich. Wenn
> das Thema an anderer Stelle schon ausführlich besprochen wurde, würde
> mir auch ein Link reichen. Bisher konnte ich im Internet keine
> zufriedenstellenden Informationen finden.

Das Thema kommt immer mal wieder auf, gerade weil es keine so kurzen
antworten gibt.

Als selbstständiger Softwareentwickler kann ich aus Erfahrung sagen,
dass viele Kunden, die Spezialsoftware für ihre Hauseigene Umgebung
in Auftrag geben, oft gar nicht über die Lizenz nachdenken. Das führt
zum einen dazu, dass sie von kleinen proprietären Softwareklitschen
schon mal ganz schön über den Tisch gezogen werden, zum anderen ist das
aber auch eine gute Gelegenheit für Freie Software - die Vorteile eines
offenen Entwicklungsmodells lassen sich nämlich plötzlich erstaunlich
gut vermitteln, wenn eine Firma tatsächlich vor der Realität steht,
mehrere tausend Euro für die Anfertigung von Spezialsoftware auszugeben.

Dem Kunden zu vermitteln, dass er nicht in alle Ewigkeit an dich
gebunden sein wird wenn er seine Software weiterentwickeln lassen will,
ist ein Aspekt darunter. Das gibt dir im Gegenzug die die Möglichkeit,
dich persönlich in eine andere Fachrichtung zu entwickeln und nicht
einziger Ansprechpartner für die Firma zu bleiben.

Auch kannst du z.T. den Entwicklungsprozess beschleunigen, wenn du auf
vorhandene Komponenten zugreifen darfst die unter einer starken
FLOSS-Lizenz (z.B. GPL/AGPL) stehen. Das macht einen echten Unterschied
bei Entwicklungszeit und Geldbeutel.

Unmengen an Software die hausintern beauftragt wird ist ohnehin gar
nicht dazu gedacht, jemals verkauft zu werden. Die Aussicht,
dass externen Stellen möglicherweise Code beisteuern könnten oder man
sich die Entwicklungskosten mit einem befreundeten Unternehmen teilen
kann ist plötzlich ein großer Anreiz.

Vorurteile gegenüber freien Entwicklungsmodellen verschwinden
schlagartig, sobald ein Kunde erst aus eigenem Antrieb einen Zugang
dazu hat was Softwareentwicklung bedeutet.

> Etwas zu mir und meiner Situation:
> 
> Ich bin seit circa drei Monaten Softwareentwickler im Bereich Embedded
> Systems. Der Job macht eigentlich Spaß, aber ich fühle mich unwohl
> dabei, proprietäre Software zu schreiben.

Eine eigene Hardwareplattform zu entwickeln und im Massenmarkt zu
Vertreiben wäre zum Beispiel etwas, dass ich mir bei einem
Einzelunternehmer *_nicht_* gut vorstellen kann - zumindest nicht am
Anfang.

Stattdessen, könntest du dich z.B auf populäre
FLOSS-Freundliche Hardwareplattformen wie Arduino und RasPi
konzentrieren (Plattform und Eignung kannst du selbst besser wählen) und
damit Dienstleistungen zu Haus- und Geländeautomatisierung,
Sensornetzen, Anlagensteuerung, Bühnenbau / Veranstaltungstechnik etc.
anbieten.
Gegebenenfalls ist es eine gute Idee, nicht mit fertigen Konzepten beim
Auftraggeber einzufallen, sondern Material und Ausrüstung direkt vom
Kunden einkaufen zu lassen, und als Dienstleister lebendig zu machen.
Das vermindert das benötigte Startkapital für dich, erlaubt dir bei der
Entwicklung besser auf den Kunden einzugehen, und erhöht auch die
Nachsicht beim Kunden, wenn irgendwo im Projekt Probleme auftreten -
schließlich sieht dieser, dass Arbeit verrichtet wird, und hat durch
seine Eigenbeteiligung gegebenenfalls auch Zugang zu den
technischen Hürden, die überwunden werden müssen.

Auch hier kommst du schnell in ein Feld, in dem Auftraggeber keine
Angst davor haben ihre Entwicklung öffentlich zu machen. Um ein
fiktives Beispiel zu nennen: Ein Konzertveranstalter, der seine Nebel-
Licht- und Lautsprecheranlage für den Einsatz in einer Bühnenshow
programmieren will steht nicht in Konkurrenz zu einem Bauunternehmen,
das Lüftung, Jalousien und Fahrstuhlmusik in einem Bürogebäude
Tageszeit- und Wetterabhängig regulieren möchte. Beide können im
Gegenteil gut zusammenarbeiten.
Der Vorteil gegenüber der Konkurrenz liegt bei solchen Firmen ohnehin
mehr in der Fachlichen Spezialisierung auf ein Feld, als in der
Verfügbarkeit von irgendwelchen bestimmten Gadgets.

> Hinzu kommt, dass ich mich von meiner Arbeitsstelle eingeengt fühle.
> [...]
> Geld spielt hingegen in meinem Leben eine eher geringe Rolle.
> [...]

Das sind denke ich ziemlich gute Voraussetzungen für dein Unterfangen.

Wichtig für kleine Unternehmer ist, dass du dir einen Kundenstamm
aufbaust indem du mit anderen Unternehmern ins Gespräch kommst. Nur zum
Teil geht das auf Fachmessen. Gerade wenn diese viel Eintritt kosten
sind sie aber eher mal ein Teich für größere Fische.
Lokale Unternehmerstammtische, User Groups, Gemeinschaftswerkstätten
oder auch einfach nur eine Imbissbude im Industrieviertel sind geeignet
um mit Kunden und Geschäftspartnern ins Gespräch zu kommen.
Achja Geschäftspartner: Es gibt keine Konkurrenten, es gibt nur
Kollegen. Gerade in so einem ideologisch geprägten Umfeld wie bei Freier
Software spielt man sich gern mal gegenseitig Aufträge zu, holt sich
ein zweites Paar Augen mit ins Projekt oder sucht einfach einen
Troubleshooter wenn man selbst gerade im Urlaub ist. Also sprich mit
Leuten - vom Floristen, der eine Gießanlage braucht über das
Esotherikercafé mit automatischem Gong und den spleenigen
Küchenausstatter mit origineller Kaffeemaschine im Kundenraum bis zum
Industrieanlagenbauer.

Was ich hier sage, sage ich natürlich alles aus persönlicher Erfahrung.
Manch einer mag mir in dem ein oder anderen Punkt widersprechen oder
etwas hinzufügen. Freie Software zeichnet sich dadurch aus, dass man
auf bestehendes zurückgreifen kann und folglich nur das hinzufügt was
noch nicht da ist. Eben weil in dem Feld ständig neues entsteht,
arbeitet auch jeder Entwickler in einem anderen Umfeld, es gibt also
keine Standard-Geschäftsmodelle.

> Damit die Email nicht zu lang wird, höre ich an dieser Stelle auf. ;-)
> Über Ideen und Anregungen oder eigene Erfahrungen wäre ich sehr
> dankbar.

Auch ich sollte mein Nähkästchen hier langsam schließen. Ich hoffe ich
konnte dir helfen, und dich motivieren.

-- 
Paul Hänsch                     █▉            Webmaster, System-Hacker
                              █▉█▉█▉
Jabber: paul at jabber.fsfe.org    ▉▉     Free Software Foundation Europe
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