Das Leid des Neuen...
theo.schmidt at wilhelmtux.ch
theo.schmidt at wilhelmtux.ch
Fr Mai 27 08:43:35 UTC 2011
Am 24.05.2011 08:59, schrieb olafBuddenhagen at gmx.net:
...
> Bist Du sicher, dass die alte Version wirklich weniger Bugs und
> gravierende Usability-Fehler hat? Meist ist es einfach nur so, dass man
> sich an die Probleme der alten Version längst gewöhnt hat, und sie daher
> gar nicht mehr wahrnimmt... Jede noch so kleine Verschlechterung (oder
> oft sogar langfristig positive Änderung, die aber Umgewöhnung erfordert)
> fällt zunächst sehr viel stärker auf, als Verbesserungen.
Es ist beides. Klar hängt man an Gewohnheiten. Eine Mitarbeiterin stört
sich z.B. daran, dass der neue "Datei-Umbenennen" Dialog von KDE ein
eigenes Fenster aufmacht statt dies im Dateinamen selbst zu erledigen.
Objektiv besser, subjektiv (für sie) schlechter.
Aber es gibt eine Menge echter neuer Bugs. Oder unerledigter alter Bugs.
Hier ein kleines Beispiel, nicht weltbewegend, aber mühsam:
In Kmail kann man im Druckdialog zwar wie früher die Ränder einstellen,
aber Kmail vergisst es wieder sofort, d.h. die Einstellung gilt nur für
genau ein Mal drucken. Dann geht es wieder auf 4 mm. Grundlage ist ein
Qt/Nokia Bug aus dem Jahr 2008:
http://bugreports.qt.nokia.com/browse/QTBUG-3567
Hier gibt es also keine Abhilfe, ausser auf Kmail oder KDE4 oder
einstellbare Ränder zu verzichten, oder ein cleverer Workaround zu
finden. Was für eine Privatperson nur nervend ist, ist für eine Firma
oder eine Verwaltung unakzeptierbar. Aber hier sind die Kosten der
Umstellung auf ein neues Mailprogramm oder ein anderes GUI hoch.
Theoretisch könnte jeder den Bug selbst beheben, aber in der Praxis
können das nur wenige, und so ist man genau so abhängig wie bei
proprietärer SW. In diesem Fall offenbar von denselben Firmen (hier Nokia).
...
> Auch ich habe mich schon oft über geänderte Interfaces geärgert, und
> kenne den Schmerz. Aber sollte man deshalb alle Oberflächen in Stein
> meißeln, und jeglichem Fortschritt entsagen?...
Es braucht beides, den Fortschritt *und* die Kontinuität. Nur eine
Monopolistin wie Microsoft kann sich leisten, ihre an Kontinuität
interessierten Kunden mit Zwangs-Fortschritt zu "beglücken", wie z.B.
die "Ribbons" in den neueren Versionen von MS-Office.
>> Hingegen sind die Usability-Probleme insebesondere der GUIs und
>> Anwendungen (vor allem bei Upgrades) für mich dermassen nervend, dass
>> ich sie ohne eine politische/philosophische Motivation wohl nicht
>> erdulden würde und mir von Win oder Mac subjektiv Besserung
>> versprechen würde
>
> Angesichts der obigen Ausführungen sollte klar sein, dass eine solche
> Erwartung völlig verfehlt ist...
Weshalb? Apple schaffte es die ersten Versionen des MacOS dermassen
intuitiv zu gestalten, dass jede Person praktisch sofort produktiv
loslegen konnte. Bis auf einige Dialoge war es fast perfekt. Microsoft
gelang ähnliches etwas weniger gut aber immerhin, mit Windows95. (Ist
mir bewusst, dass diese Konzepte früher von anderen erfunden wurden,
aber das ist hier nicht da Thema.) Diese populären GUIs mussten dann
einerseits dem Internet und anderserseits der schier unglaublichen Zahle
von Dokumenten angepasst werden, die heute auch eine Privatperson
besitzt, z.B. wegen Musik- und Photo-Sammlungen. Und noch neuer: die
schier unglaubliche Verfügbarkeit von "Apps". Ich denke KDE und Gnome
hatten die neuen Herausforderungen zunächst besser gelöst als Apple und
Microsoft, aber damit scheint es nun vorbei. Der "Business"-Kunde
erwartet, dass die Mitarbeiter mit ihren Dokumenten und Geräten arbeiten
können. Dazu braucht es eine Art Standard-Oberfläche, die
*funktioniert*. Beides ist weniger gegeben als früher. Ich weiss nicht,
ob diese Dinge bei Microsoft oder Apple besser oder schlechter gelöst
sind, aber sie *scheinen* dort besser gelöst. Das dürfte *ein* Faktor
beim Scheitern einiger Linux Migrationen vom letzten Jahr sein. Ich sehe
das an mir selbst und meinen wenigen MitarbeiterInnen. Wenn man viel
Arbeit hat oder sogar davon etwas überwältigt ist, verträgt es nicht
viel an Unanehmlichkeiten.
Viele Grüsse, Theo Schmidt
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