Netzpolitik an der Oberfläche | war: Re: "Basisdemokratie und Ehrenamt sind keine Allheilmittel. " von Leena.de

micu micuintus at gmx.de
Mi Apr 20 16:08:15 UTC 2011


Hallo Henry et al.,

On Tuesday 19 April 2011 10:43:13 Henry Jensen wrote:
> Zur "Digitalen Gesellschaft" und anderen netzpolitischen
> Vereinigungen (FoeBuD usw.) möchte ich noch anmerken, dass mir diese
> zu einseitig auf unmittelbar politisch realisierbare Forderungen
> ausgelegt sind bzw. dass diese nicht zu Ende gedacht sind. Sicher
> ist es m. E. richtig und wichtig sich gegen VDS und Netzsperren zu
> wehren. Wenn es aber z. B. um freie Software geht äußern sich diese
> Vereinigungen kaum bis gar nicht. Freie Software ist aber die
> Voraussetzung für eine freie "Digitale Gesellschaft". 

ACK. Ich sehe das als ein sehr grundsätzliches und gewichtiges Problem 
von weiten Teilen der »netzpolitischen Szene« an. Sei es im Zusammenhang 
mit Parteien (wie der SPD, der Linken, der FDP, den Grünen oder den 
Piraten), in Blogs, in netzpolitischen Diskussionsrunden in Funk und 
Fernsehen, oder im Zusammenhang mit Vereinigungen wie dem FoeBuD, dem AK 
Vorrat oder sogar dem CCC: Fast alle der (aktuellen) Netzpolitik-
Debatten bleiben leider in der Oberfläche der Anwendungsschicht stecken. 
Ich will damit bestimmt nicht sagen, dass diese »aus der Anwendersicht« 
geführten Debatten nicht *auch* sehr wichtig wären.

Aber ich bin davon überzeugt, dass eine kompetente, wirksame und 
nachhaltige Netzpolitik (die mehr als Schaumschlägerei und ein leerer 
Diskurs sein will) nur erblühen kann, wenn sie ihr Augenmerk deutlich 
prominenter auch auf die tieferen Schichten des Internets---bzw. unserer 
IT-Infrastruktur i.A.---unterhalb der Anwendungsebene (und damit auf 
Themen wie offene Standards und freie Software, Crypto, das Ende-zu-
Ende-Prinzip, dezentrale Infrastrukturen/P2P, Principle of least 
privilege, multilaterale Sicherheit etc.) legt. Denn es sind diese 
tieferen Schichten, in denen sich die Beschaffenheit des Leitmediums 
unserer Zukunft auf mittlere und lange Sicht maßgeblich konstituieren 
wird.

Umso mehr freue ich mich darüber, dass in FSF(E)-Kreisen immer öfter 
diese »tieferen Schichten« auch jenseits der freien Software und offener 
Standards thematisiert werden [1, 2]. Wenigstens die Netzneutralität ist 
inzwischen auch in Deutschland zu einem netzpolitischen Mainstreamthema  
geworden.

Der tragischerweise vor kurzem jung verstorbene Prof. Pfitzmann [3] hat 
diese »tieferen Schichten« in Bezug auf den Datenschutz schon vor mehr 
als 10 Jahren in seinem Vortrag »Warum brauchen wir Technik? — Zum 
Verhältnis von Technik und Recht« (S.131-S.135 in »20 Jahre Datenschutz 
— Individualismus oder Gemeinschaftssinn?« [4]) thematisiert. In diesem 
Vortrag legt er sehr treffend dar, dass es uns viel mehr um 
»Technikgestaltung« (also um die generische und grundlegende rechtliche 
und durchaus auch technische Gestaltung der Infrastruktur unserer 
digitalen Gesellschaft [durch die Politik]) gehen sollte, denn darum, im 
Nachhinein im Konkreten (durch das Recht) an der Oberfläche 
herumzudoktoren, wenn das Kind schon lange in den Brunnen gefallen ist.

Schöne Grüße
micu
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[1] <http://www.micuintus.de/2011/03/08/why-political-liberty-depends-on-software-freedom-more-than-ever/>
[2] <http://www.youtube.com/watch?v=hNhlOlGInHE>
Übrigens eine ganz dickes Lob für diesen Vortrag: sehr charismatisch und
didaktisch-rhetorisch-dramaturgisch hervorragend. Mir war (bis ich
diesen Vortrag vor kurzem entdeckte) gar nicht klar, dass wir so
einen coolen Free-Software-Steve-Jobs (ähem, das soll in diesem
Zusammenhang bitte als Lob aufgefasst sein :D) in unseren Reihen haben. 
[3] <http://www.micuintus.de/2010/09/24/zum-tod-von-prof-dr-andreas-pfitzmann/>
[4] <https://www.ldi.nrw.de/mainmenu_Service/submenu_Tagungsbaende/Inhalt/20_Jahre_Datenschutz/20_Jahre_Datenschutz1.pdf>
-- 
GnuPG:		https://www1.inf.tu-dresden.de/~s3418892/micuintus.asc
Fingerprint:	1A15 A480 1F8B 07F6 9D12 3426 CEFE 7455 E4CB 4E80

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http://www.micuintus.de



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