Freie Inhalte um jeden Preis? | war: Re: Created with Free Software Stempel

Volker Grabsch vog at notjusthosting.com
Do Mär 25 23:28:41 UTC 2010


Johannes Näder <johannesnaeder at gawab.com> schrieb:
> Am Donnerstag 25 März 2010 19:53:12 schrieb Volker Grabsch:
> > Aber ein langer, gut ausformulierter Blog-Eintrag, der fast an ein
> > Tutorial, eine Howto oder eine journalistische Publikation herankommt
> > - nun, dieser sollte von anderen verwendet und weiter ausgebaut werden
> > können. Im einfachsten Fall zu einem Wikipedia-Artikel, im besten Fall
> > zu einem ganzen Buch.
> 
> das sehe ich anders. Wer als Autor einen qualitativ hochwertigen Text fürs 
> Internet schreibt, sollte sich nicht dafür rechtfertigen müssen, dass er ihn 
> nicht unter einer freien Lizenz anbietet.

Wenn wir mal politische Bekundungen und andere sehr persönliche Texte
außen vor lassen ... Wieso nicht?

Ein bisschen Druck in Richtung freier Lizenzen und Nachhaltigkeit wäre
gar nicht verkehrt. Viele Autoren würden es sich vielleicht überlegen,
ihre Text doch unter eine freie Lizenz zu stellen, wenn man ihnen
aufzeigt, dass Restriktionen wie NC und ND völlig überzogen sind.

Mag sein, dass man einige Autoren damit verschrecken würde, aber so
viele wären das gar nicht. Und selbst wenn: Dann gäbe es womöglich
weniger Texte, aber dafür wären mehr von ihnen frei. Nutzbarkeit vor
Quantität - denn Quantität haben wir im Internet genug.

> Dafür kann es viele Gründe geben - 
> angefangen vom Wunsch, den Text noch erfolgreich verkaufen zu wollen, bis hin 
> zur Angst vor Entstellung.

Ja, aber genau das meine ich! Die Leute tun es aus völlig irrationalen
Gründen.

Hat irgendein Verlag jemals einen bereits veröffentlichten Internet-
Artikel gekauft? Darauf lässt sich doch keiner ein - entweder Exklusiv-
Rechte oder freie Lizenz. Oder der Autor trägt das Risiko selbst, d.h.
Print-on-Demand, aber dann ist die Lizenz wurst.

Und wie kann man etwas entstellen, wenn es keine politische Meinungsbekundung
ist, und das Original immer noch an alter Stelle für jedermann einsehbar
ist? Wenn irgendwo eine Variante auftaucht, wird damit doch nicht das
ursprüngliche Blog entstellt.

Oder wollen wir jetzt Karrikaturen und Satire verbieten? _Diese_
künstlerischen Freiheiten gibt es nämlich nach wie vor, völlig
unabhängig von irgendwelchen Lizenzen.

Nein, solche Begründungen denken sich die Leute als Rechtfertigung
im Nachhinein aus. Die eigentliche Motivation ist doch, das Gefühl
der Kontrolle über das "eigene geistige Eigentum" zu behalten, selbst
wenn es sich um ehrenamtliche Arbeit handelt!

Das kann natürlich jeder handhaben wie er will, aber es bringt
niemandem Vorteile, weder dem Autor noch der Allgemeinheit. Es ist
ein Verhaltensmuster aus den Zeiten vor dem Internet, das viele
Menschen noch nicht abgelegt haben. Mag sein, dass das früher
sinnvoll gewesen ist - doch womöglich nicht einmal das.

Wer jedoch an freier Software arbeitet, sollte _eigentlich_ dieses
Verhaltensmuster durchschauen - schließlich hat er es stellenweise
schon durchbrochen.

Ich verstehe, dass das in vielen Köpfen von Leuten herumgeistert, die noch
nie aktiv mit einem Freien-Software-Projekt zu tun hatten: Etwa, wenn ein
Autor seine ersten Artikel ins Netz packt, oder ein Musiker seinen ersten
Song online stellt. Oder ein Software-Entwickler, der nur das proprietäre
Zeug kannte, und bislang nur auf diese Weise entwickelte.

Aber dass Leute aus der Freien-Software-Welt an dieser unsäglichen
Tradition festhalten, das finde ich sehr bedauerlich. Kein Sinn für
Nachhaltigkeit. Ehrenamtliche Arbeit mit ausgefahrenen Ellenbogen ...

> Außerdem hat er Zeit und Mühe investiert und folgt 
> ja vielleicht noch anderen Interessen als dem sehr altruistischen Ziel eines 
> Zuflusses zur "geistigen Allmende"

Mir geht es gar nicht um Altruismus, sondern um das Vermeiden von
Kontrollzwängen, mit denen die Leute nicht nur die Allgemeinheit,
sondern auch sich selbst "schädigen".

(hier: "Schaden" im Sinne eines nicht eingetroffenen Nutzens)

> - kann man ihn dafür verurteilen?

Verurteilen sicher nicht. Kritisieren aber sehr wohl!

> Vielleicht ist das jetzt etwas plakativ: Wenn ich mich hinsetze und eine 
> Erzählung von Kafka lese oder Radiohead höre, dann kann ich viel damit 
> anfangen, dann habe ich etwas davon - Genuss, Faszination, vielleicht 
> Erkenntnis.

Genuss, Faszination, Erkenntnis - und mehr leider nicht.

Insbesondere keine Verbesserung, und keine interessanten
Variationen. Wirklich schade.

> Und das alles, obwohl ich das Stück nicht remixe und die Erzählung 
> nicht umschreiben kann: Ich darf es nicht und ich will es auch nicht.

Kurze Korrektur: Bei Kafkas Werken darfst du das, die sind
inzwischen gemeinfrei.

> Vielleicht wollen das andere, dessen bin ich mir schon bewusst.

Wenn man sich dieser Menschen bewusst ist, wieso legt man ihnen
Steine in den Weg? - ohne einen vernünftigen Grund, aus purem
Eigensinn. Und zwar aus "dummen" Eigensinn, von dem man nicht
einmal selbst profitiert.

Wieso nicht stattdessen diese eifrigen Menschen unterstützen?
Schaffe 1 Werk, erhalte 5 Variationen für Lau. Wenn das kein
Geschäft ist ...

"5 Variationen? Pah, wahrscheinlich wird es nichtmal eine geben!"
Nun, dann kann man sein Werk doch erst recht freigeben.

> Aber darum geht es mir hier nicht, sondern darum, dass "Nutzen" sich nicht darin 
> erschöpft, Derivate eines Werks zu erstellen.

Hat auch niemand behauptet.

> Ich würde sogar davon ausgehen, 
> dass dies die seltenere "Nutzungsform" selbst von freier Musik ist.

Klar, jeder konsumiert mehr als er modifiziert. Das ist ja das tolle
an der digitalen Welt: Sie funktioniert auch, wenn nur eine Minderheit
mitwirkt.

Dann ist es aber umso wichtiger, dass sich diese Minderheit gegenseitig
unterstützt, und zwar so gut wie möglich! Und das geht nur mit freien
Lizenzen.

> Was die Freiheit angeht: Man wird den vier Freiheiten nicht gerecht, wenn man 
> sie 1:1 auf andere Inhalte als Software überträgt und entsprechende 
> Forderungen stellt.
> [...]
> Kurz: Für mich geht es hier um Freie Software, nicht aber um Freie Inhalte um 
> jeden Preis.

Siehe oben: Ich fordere ja gar keine freien Lizenzen für alles,
sondern ich kritisiere diejenigen, die ihr Zeug nur halbherzig
freigeben, _obwohl_ sie es eigentlich besser wissen müssten.

In einem Chaosradio-Beitrag gab es eine hervorragende Antwort:

    Habt keine Angst!

(von Tim Pritlove, glaube ich). Das war seine Antwort auf einen Anrufer
in der Sendung, der wissen wollte, ob er auf seiner Homepage technisch
verhindern könne, dass andere seinen Text kopieren. Das heißt, man sollte
den Text "nur lesen" können. Begründung war, dass in dem Text eine gewisse
Arbeit und Recherche drin stecke.

Die darauf erfolgte, an alle Hörer gerichtete, Antwort "Habt keine Angst!"
traf den Nagel genau auf den Kopf.


Gruß,

    Volker

-- 
Volker Grabsch
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