Weizenbaum: Wir gegen die Gier

Ingmar Redel virtualoffice at gmx.org
Do Mär 13 21:18:22 UTC 2008


Lieber Bernhard, liebe Mitlesende,

ich möchte meinen Standpunkt versuchen besser zu erläutern.

 >> Wie auch immer: die Frage ist, ob wir weiter machen wie bisher
 > Ich verstehe das auch als Kritik an meinem persönlichen politischen 
Handeln,
 > denn schliesslich mache ich Deiner Ansicht was falsch.
 > Ich verstehe aus Deiner Email allerdings nicht, was und wie es besser 
ginge.

Erstmal ist es richtig, dass ich das Empfinden habe, dass wir etwas 
falsch machen und das schon sehr lange. Dies aber heisst wiederum nicht, 
dass ich denke, dass die einzel-thematische Arbeit falsch wäre. Im 
Gegenteil, es braucht konkrete Arbeit zu einzelnen Themen, um hier 
Wissen zu vertiefen und gute Lösungen zu finden.

Auf der anderen Seite wird mir aber auch immer mehr klar, dass der 
aktuelle Weg allein, also das reine Denken in Organisationen und ihren 
festen Themen und wiederum ihren individuellen Kampagnen uns nicht 
"retten wird". Die Zustandsverschlechterung ist kontinuierlich. Einige 
kleine und auch große Erfolge wurden Errungen, viele Niederlagen wurden 
aber gleichzeitig erlitten und neue Probleme treten permanent hervor.

Ich denke, wir brauchen dringen eine breite, Themen übergreifende 
Partizipation der Bürgergesellschaft. Gesellschaft ist nicht nur ein 
Thema. Wenn sich der Einzelne aber nur auf ein Thema konzentriert (was 
im Arbeitskontext natürlich ok ist, aber eben nicht allgemein) und nur 
zu einem Thema z.B. an Kampagnen teilnimmt, haben wir das Problem, dass 
das Ganze, nämlich generell eine mitmenschliche Gesellschaft zu 
erringen, unterräpresentiert ist.

Es ist eine ganz simple Rechnung: wenn wir fiktiv 100.000 Menschen 
haben, die bereit sind an Kampagnen, Petitionen, Volksentscheiden usw. 
teilzunehmen und so der Stimme der Bürgergesellschaft ausdruck verleihen 
möchten, jedoch immer nur ihren kleinen Bereich sehen, brechen wir damit 
die Zahl Aktiven Gesellschafter pro Thema auf ein Bruchteil herunter.

10.000 Menschen für ein soziales Thema x.
10.000 Menschen für freie Software.
10.000 Menschen für regenerative Energien.
10.000 Menschen für Datenschutz... usw.

So bleibt am Ende "jedes Grüppchen" unter sich, nimmt nur an eigenen 
Kampagnen teil, sieht nicht die Gesellschaft als Ganzes und ist oft 
blind für die anderen dringend nötigen Veränderungsprozesse. Und so 
kämpfen dann immer diese kleinen Grüppchen gegen die grossen Mühlen, 
ohne das sie realisieren, dass sie zusammen, wenn sie sich gegenseitig 
öffnen würden, das Ganze realisieren würden, viel stärker wären.

Das ist es auch, was ich letztlich mit dem World Social Web Dialogue 
bzw. dem Unterprojekt OneAim.org für ein globales Kampagnen Informations 
Netzwerk (ein dezentraler Internet Standard für Kampagnen, Petitionen 
und Volksentscheide) teilweise plane und damit verbessern möchte.

Wir brauchen für jedes wichtige Thema alle 100.000 Stimmen. Erst durch 
solche Synergie könnten in der Zukunft relevante Massen entstehen, 
welche doch noch das Ruder in gewisser Weise "herumreissen".

Natürlich müssen Informationen gefiltert und bewertet werden, um der 
Informationsüberflutung entgegenzuwirken - aber das ist wieder eine 
andere Sache. Wichtig ist im Kern der Aufbau von Themen übergreifender 
Synergie.

Letzteres heisst nicht, dass die FSFE oder NFW z.B. alles und jedes 
unterstützen sollen. Nein. Die NGO als thematische NGO wird nicht 
angetastet und soll weiter ihre Arbeit so gut wie möglich umsetzen, 
jedoch in der Zukunft im Aussenrahmen ihres Themas (hier z.B. freies 
Wissen) auch mehr Kooperationen suchen, um gemeinsam bessere Aufklärung, 
Kampagnen- und Lobbyarbeit leisten zu können.

Das ist das eine. Der andere Punkt betrifft aber direkt den einzelnen 
Menschen. Dich, mich, Petra, Christoph, alle. Privat. Kochen wir auch 
privat, als einzelne Bürger, nur ein Thema und nehmen wir nur thematisch 
an den immer gleichen Initiativen durch unsere Stimme teil? Oder tragen 
wir dazu bei, das sich durch Synergie der Pool der Stimmen für JEDES 
wichtige Thema vergrössert?

Es geht dabei um grundlegende ethische Werte und die Verkopplung von 
Zusammenhängen, die in einer Gesellschaft letztlich NICHT voneinander 
getrennt werden können. Auch wenn soziale, ökologische, 
datenschutztechnische, menschenrechtliche oder belange des freien Wissen 
  usw. jeweils ein wichtiges Thema für sich sind, kann alles ohne das 
andere NICHT sein.

Was ist freie Software unter einer "Brasilianisierung der Gesellschaft" 
(zunehmende soziale Ungleicheheit)? Was ist freie Software wert, wenn es 
zu einem Klimakollaps kommt? Was ist freie Software wert, wenn der 
Überwachungsstaat umsich greift? Die Antwort ist immer: nichts. Genauso 
umgekehrt. Es nützt nichts, wenn es sozial gut läuft und die Erde 
kollabiert, genauso wenig, wie es etwas nützt, wenn der Klimakollaps 
verhindert wird und die Armut überall auf der Welt (auch in Deutschland) 
immer weiter steigt.

Kurz: alle Themen sind letztlich miteinander verknüpft und wir brauchen 
die Synergie der Stimmen für alle wichtigen Themen. In unserer Arbeit 
können wir uns weiter auf eine Sache konzentrieren, aber als Bürger, 
privat, müssen wir alle wichtigen Themen unterstützen, weil alles 
miteinander verwoben ist.

Letzteres kann man aus mitmenschlicher Erkenntnis tun - oder aus 
strategischem Denken heraus. Wie auch immer der Weg ist, hauptsache es 
geschieht.

Wie ich schon schrieb, muss eine NGO ihr Terretorium dafür nicht 
verlassen. Auch der Einzelne muss seinen Arbeitsfokus nicht verlassen. 
Aber er sollte in der Zukunft gewillt sein alle wichtigen Anliegen durch 
seine Stimme zu unterstützen (wie das effektiv möglich ist im Rahmen 
eines Kampagnen Informations Systems ist wieder eine andere Sache.

Was kann die einzelne NGO tun, um diese Themen übergreifenden Synergie 
zum Wohl der gesamten Gesellschaft zu unterstützen? Sie kann ein solches 
globales, dezentrales, semantisches Kampagnen System ideel unterstützen 
und an die Mitmenschen zur Teilhabe appelieren.

Ich weiss nicht, ob es rüber kommt, aber ich wünsche mir ganz klar eine 
aktive Bürgergesellschaft - Übersetzungen vorausgesetzt sogar eine 
aktive Weltbürgergesellschaft.

Gerade habe ich von Aglaia einen tollen INEF Report (Institut für 
Entwicklung und Frieden) zugesandt bekommen zum Thema "Das Konzept 
Global Governance - Stand und Perspektiven", welches wirklich sehr zu 
empfehlen ist und ihr euch hier als .pdf herunterladen könnt:

<http://inef.uni-due.de/page/Abstract.html/715>

Wenn wir z.B. im Rahmen der Entwicklung von Global Governance wirklich 
ein wichtiger Player werden wollen als Weltbürgergesellschaft, müssen 
wir es schaffen - neben guten Argumenten - mehr Stimmen bottom-up für 
unsere Anliegen einer mitmenschlichen Gesellschaft zu mobilisieren. 
Stimmen bedeuten Druckmittel für gute Argumente.

Und an diesem Punkt ist es eben ein Unterschied, ob ich zu jedem Thema 
nur 10.000 Stimmen habe oder zu jedem Thema mit 100.000 Stimmen - oder 
auf der internationalen Ebene sogar mit xxx Millionen Stimmen aufwarten 
kann. Jede Stimme ist Druckmittel und ein Teil der Stimmen ist auch 
immer für konkrete Kampagnen vor Ort aktivierbar, wenn die Stimme allein 
nicht ausreicht und öffentlicher Protest nötig ist.

Ich weiss, dass es schwer ist diese Veränderungen und eine solche 
ganzheitliche Synergie herbeizuführen, doch denke ich, dass daran kein 
Weg vorbei führt, wenn wir stärker werden, den permanenten 
gesellschaftlichen Abrutsch verhindern und mehr mitmenschliche Gedanken 
in der Welt umgesetzt sehen wollen.

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Alles Liebe
Ingmar







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