[Wsis] Freie Software-Aktivisten aus Lateinamerika berichten

Meike Richter meike.richter at web.de
Mo Jul 11 09:36:02 UTC 2005


Liebe WSIS-Liste,

an Interessierte: Ich habe für meine Magisterarbeit über Freie/ Open Source 
Software und den Digital Divide auf dem Linuxtag in Karlsruhe Interviews mit 
lateinamerikanischen Aktivisten aus der Freie Software-Szene geführt, siehe 
Zusammenfassung. 

Alle Interviews sind als ogg + mp3 unter http://www.fair-code.net online.

Liebe Grüße,

meike

Freie Software-Aktivisten aus Lateinamerika berichten
Brasilien ist weit vorn in Sachen GNU/Linux, das färbt auf die Nachbarn ab. 
Weil Microsoft wie immer schon vorher da war, ist die Arbeit 
der Freie Software-Aktivisten Fernanda Weiden 
(Brasilien), Beatriz Busaniche und Federico Heinz (beide aus Argentinien) 
mühsam.

Fernanda Weiden programmiert für die Linux-Distribution Debian und ist unter 
anderem aktiv beim „Projeto Software Livre Brazil“ 
http://www.softwarelivre.org/ (Projekt Freie Software Brasilien). Die 
Initiative setzt sich für Freie Software und technologische Unabhängigkeit 
ein. Weiden arbeitet für das IBM Linux Technology Center Brasilien und 
engagiert sich bei feministischen Organisationen wie dem „Projeto Software 
Livre Mulheres“ http://mulheres.softwarelivre.org/.

„Als die Regierung unter Präsident Lula anfing, ihre IT-Politik auf Freie 
Software umzustellen, hat sie die Community eingeladen, den Prozess 
mitzugestalten,“ sagt Weiden. Die Zusammenarbeit zeigt Früchte. Lulas Partido 
dos Trabalhadores (PT) eröffnete mit freier Software betriebene Telecentros, 
in denen Menschen unentgeltlich Computer nutzen können. Im Rahmen der 
Kampagne „PC Conectado“ vergibt die brasilianische Regierung etwa eine 
Million GNU/Linux-PCs an Haushalte mit kleinem bis mittleren Einkommen zu 
günstigen Konditionen. Brasilien kommuniziert seine Politik als Mittel, um 
den sogenannten Digital Divide zu überbrücken. Indem mehr Menschen Zugang zu 
Informations- und Kommunikationstechnologien erhalten, so die Hoffnung, soll 
Entwicklung und Chancengleichheit gefördert werden. Der Aufbau einer lokalen 
Software-Industrie ist ein erklärtes Ziel. 
Die Brasilianer möchten auch ihre Bundesverwaltung mit 300.000 Rechnern 
migrieren. Dabei gibt es auf Bundesebene noch keine rechtliche Grundlage für 
diese Politik – gehandelt wird allein auf Empfehlung. 
Mittlerweile gebe es eine breite gesellschaftliche Debatte über Freie/ Open 
Source Software. Brasiliens wichtigste IT-Zeitschrift ignoriert das Thema 
zwar weitgehend. Aber Tageszeitungen, MTV Brasilien oder der populäre Sender 
TV Cultura bringen Interviews und zeigen Interesse. Trotzdem sind Fernanda 
Weiden und ihre Mitstreiter mit Basisarbeit beschäftigt. GNU/ Linux ist noch 
lange nicht in den Institutionen verankert. Die Aktivisten suchen den Kontakt 
zu gesellschaftlichen Gruppierungen außerhalb der Techie-Gemeinden. „Wir 
informieren, helfen bei der Migration. Alles in allem stehen wir erst am 
Anfang der Entwicklung.“ Ein ganzes Land aus der Windows-Welt zu führen ist 
ein langwieriger Prozess. Naturgemäß ist Microsoft von diesem Vorhaben nicht 
begeistert. Das Imperium schlägt zurück. „Zum Beispiel verteilt Microsoft 
großzügig Lizenzen und Gelder an Bildungseinrichtungen und NGOs, die im 
IT-Bereich aktiv sind. Das ist ein Problem.“ Auf politischer Ebene gibt es 
harte Auseinandersetzungen.

Die enge Zusammenarbeit mit Lulas Arbeiterpartei hat den Vorteil, dass die 
Umstellung auf GNU/ Linux vorankommt. Die Gefahr dabei: sollte die PT die 
nächsten Wahlen verlieren, könnte auch der Einsatz freier Software schnell 
von der politischen Agenda verschwinden. 
So geschehen im Bundesstaat Rio Grande do Sul. Die unter PT-Politikern 
eröffneten GNU/ Linux Telecentros wurden nach der Abwahl der Partei 
geschlossen. Ähnliches passierte nach einem konservativen Machtwechsel in São 
Paulo. Die neue Verwaltung kürzte die Budgets für die mit Freier Software 
betriebenen Telecentros um 50 %. 
„Wir müssen mit allen Parteien reden und überzeugen. Das ist die größte 
Herausforderung für die Community. Freie Software ist wichtig für Brasilien,“ 
beschreibt Weiden die vordringlichsten Aufgaben für die Community.

Federico Heinz und Beatriz Busaniche aus Argentinien teilen Weidens 
Erfahrungen. Außerhalb der Techie-Gemeinde setzt sich das Bewusstsein für 
Freie Software erst langsam durch. „Die Wahl der Software - das ist wie ein 
blinder Fleck“, formuliert Heinz. Eine Beobachtung, die wohl weltweit gilt. 
Heinz und Busaniche arbeiten für die Stifung Vía Libre 
http://www.vialibre.org.ar/, die sich für nachhaltige Entwicklung im 
Zusammenhang mit Informationstechnologien einsetzt. Heinz ist außerdem ein 
Sprecher der Free Software Foundation (FSF) http://www.fsf.org/. Busaniche 
war als Vertreterin der Zivilgesellschaft beteiligt an Konferenzen des 
UNO-Weltgipfels der Informationsgesellschaft. „Seit Brasilien aktiv pro Freie 
Software geht, finden wir mehr Gehör,“ sagt Busaniche.

Die Debatte um den Digital Divide sehen die Argentinier kritisch. „Dieser 
Ausdruck – Digital Divide – was ist denn daran digital?“ fragt Heinz. 
„Eigentlich ist das nur ein neuer Ausdruck für den uralten Kampf zwischen Arm 
und Reich.“ Oft fehle es an Elementarem wie Zugang zu Bildung. Die Auffassung 
mancher Politiker und NGOs, dass sich mit dem Aufbau einer IT-Infrastruktur 
automatisch die Lebensumstände ärmerer Bevölkerungsschichten verbessern, 
teilt er nicht. 
Die Bevorzugung proprietärer Programmcodes verschlimmere die Situation noch. 
Abhängigkeiten würden so nur zementiert. Dabei gebe es viele gute Argumente 
für GNU/ Linux, gerade in der öffentlichen Verwaltung: Transparenz, 
Flexibilität, Kostenreduktion und Unabhängigkeit . Aber weil Microsoft leider 
schon vorher da war, bleibt die Auseinandersetzung über Softwarepolitik oft 
eine intellektuelle Debatte. Heinz hat eine einfaches Rezept, um das zu 
ändern: „Guten, freien Code schreiben. Und das laut kommunizieren.“ 
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Liebe Grüße
Meike
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