meine Diplomarbeit

Christian Selig christian.selig at bnv-bamberg.de
Mi Okt 10 12:40:45 UTC 2001


Hallo Kim!

Vielen Dank für Dein angehängtes Exposé. Ich habe noch einige kleine
Kommentierungen vorgenommen.

Darüber hinaus habe ich diese Mail auch an die deutsche Diskussionsliste
der Free Software Foundation Europe geschickt. Ich denke, Dein Ansatz
geht genau in die Richtung eines Teils der FSFE-Argumentation. Es ist
sehr erfreulich, den *pädagogischen* Gedanken pro Freie Software so
ausformuliert zu sehen.

Wenn Du Dich mal auf einer IT-Messe im deutschen Raum herumtreiben
solltest, dann könntest Du Dich ja mal mit uns FSFE-Leuten treffen.

Tschüß,
  Christian

Kim Neunert wrote:
> 
> Hallo liebe Freunde der freien Bildungssoftware ;-)
> 
> Nachdem ich hier vor einiger Zeit nach einem Thema für meine Diplomarbeit
> nachgefragt habe, will ich nun mal wieder einen Zwischenstand abgeben. Mir ist
> bewußt, daß sich in dieser Mailingliste v.a. Praktiker tummeln, aber deswegen
> laß ich mich nicht davon abschrecken meine theoretischen Überlegungen hier zu
> verstreuen in der Hoffnung, daß vielleicht doch dem einen oder anderen etwas
> dazu einfällt. Ich bitte zu bedenken, daß ich nicht Informatik studiere und das
> meine Profs keine Ahnung haben was z.B. der wirkliche Unterschied zwischen
> Linux und Windoof ist (Die Abneigung der Pädagogik zur Informatik läßt sich
> auch herauslesen). Im übrigen könnte es auch sein, das ich mit so einem Thema
> schlicht und einfach übel abgebürstet werde. Also, bevor es meine Profs
> bekommen hier die Ausarbeitung meines mittlererweile DRITTEN Exposes zum Thema
> (Von denen ich bisher nur eins meinen Profs zu Gesicht gebracht habe). Wer
> zwischen den Zeilen liest, wird einen gewissen Zusammenhang mit freier
> (Bildungs-)Software nicht leugnen können:
> 
> ----------schnipp----schnapp------------------------------------------------
> 
> Bildung und Informatik (Arbeitstitel) - Umriss einer Diplomarbeit
> 
> ? Oskar Negt: ?Wir leben nicht nur in einer von Technik bestimmten oder
> beherrschten, sondern in einer von Technik konstituierten Welt. Kritische
> Positionen, in denen antitechnische Affekte durchschlagen, verwandeln sich
> schnell leicht in realitätslose moralische Widerstandshaltungen ... Die
> Annahme, die technologische Entwicklung hätte von sich aus eine apokalyptische
> Dimension, ist ein Irrtum und entspricht Unkenntnis. Und es gibt

"apokalyptisch" ist die technologische Entwicklung auf eine gewisse Art
und Weise immer. Eine neue Technologie ist zwar nicht der Weltuntergang,
jedoch bedingt sie neue gesellschaftliche Muster und
Organisationsformen. Das fing an mit der phonetischen Schrift, die
überhaupt erst ein römisches Imperium ermöglichte (Bürokratie!) und dann
der Buchdruck, der den Nationalismus ermöglichte (einheitliche Sprache
-> Zusammengehörigkeit). Um noch mehr über die intrinsische Wirkung
neuer Medien zu erfahren, kannst Du Dich mal dem Werk "Understanding
Media" von Marshal McLuhan widmen.

> selbstverständlich Technologien, die dem Menschen immer näher gekommen sind,
> zum Beispiel die Mikroelektronik [...] Technologische Kompetenz bedeutet also
> nicht nur technische Qualifikationen im Sinne von Fertigkeiten, sondern
> gleichzeitig das Wissen um die gesellschaftlichen Wirkungen von Technologien.
> Komplexe und widersprüchliche Entwicklungen bis in die gesellschaftlichen
> Mikrostrukturen hinein zu begreifen, betrachte ich als eine eigentümliche
> Kompetenz, als eine durch Wissenserweiterung und Übung erworbene Fähigkeit,
> Technik als ein gesellschaftliches Projekt wahrzunehmen.? (Negt O.: Was künftig
> gelernt werden sollte - Schlüsselqualifikationen für die Zukunft In: Jobelius
> S./Rünker R./Vössing K.(Hrsg.): Bildungs-Offensive -  Reformperspektiven für
> das 21.Jahrhundert, Hamburg 1999, S.64)
> 
> Die Informatik hat in der erziehungswissenschaftlichen Forschung einen
> technologischen Beigeschmack. Meist werden didaktische Konzepte, Lernprogramme
> aber auch gesellschaftliche Implikationen der Informatik aus informatischer
> Sicht dargestellt bzw. aufgearbeitet. Das ist meines erachtens ein Defizit in
> der Erziehungswissenschaft. Ich möchte aber im voraus hier klarstellen, daß es
> mir nicht einfach nur um die Auswirkungen der Informationsgesellschaft in allen
> ihren Facetten geht. Davon wurde bis jetzt ziemlich viel veröffentlicht (Die
> Medienpädagogik befasst sich z.b. mit den Auswirkungen der sog. neuen Medien).
> Mir geht es v.a. um das Informationstechnische/Informatische Wissen und seine
> gesellschaftlichen Implikationen, die das Subjekt haben sollte, um nicht
> einfach zum unreflektierten Benutzer/Bediener von Computern/Software zu werden.

"Konsument". Ein schöner einleitender Absatz dazu steht unter
http://www.fsfeurope.org/education/argumentation.de.html

> Zumeist wird darauf verwiesen, daß der junge Mensch zumeist viel besser mit dem
> Computer umgehen kann als die ältere Generation. Aber welche gesellschaftlichen
> Hintergründe werden durch den unreflektierten Gebrauch des Computers (und v.a.
> der installierten Software) vernachlässigt ? Der Gebrauch von
> Computern/Software wird mehr und mehr als quasi Naturtatsache akzeptiert und
> dem Benutzer fehlt immer mehr die Erkenntnis, daß sowohl Software wie auch der
> Computer ein gesellschaftliches Phänomen und von Menschen gemacht ist/wurde und
> insofern den gleichen Regeln unterliegt wie z.b. der Verkauf und Gebrauch von
> Automobilen (in dieser Analogie müßte man zudem davon ausgehen, daß 80% der
> Menschheit die gleiche Automarke fahren würden).

Ich denke, hier könntest Du vielleicht die "Seitenhiebe" (nicht negativ
gemeint) vermindern und stattdessen das Kernproblem etwas anschaulicher
beschreiben. Viele Menschen aus der alten Zeit erkennen nicht die
Unvereinbarkeit von Materie (Auto) und Universal/Information/whatever
(Software); da sie aber nicht umdenken möchten, versuchen sie einfach,
das neue Phänomen (Massen-)Information in eine Analogie mit Materie zu
pressen. Software kann man nicht stehlen. Sie ist einfach. (Ich höre
gerade, wie sich der Existenzialist in mir die Hände reibt ;) ).

> Setzt man sich als Pädagoge mit diesem Thema auseinander, so ergeben sich eine
> Reihe von Themenkomplexen:
> ? Die Informatik und Ihre Produkte (Software) haben eine immense

Jetzt tappst Du selber rein :) Software != Produkt, da ein Produkt eine
materielle Eigenschaft besitzen muss, die von Software nicht erfüllt
wird.

> Gesellschaftliche Relevanz erreicht. Software kommt fast überall vor:
>    ? im Lehr-Lern-Komplex (Informatikunterricht, außerschulische Jugendbildung
> (Medienkompetenz), Mathematikunterricht ...)
>    ? im Arbeits-Zusammenhang
>    ? in den Medien (Microsoft als Monopol)
>    ? Zuhause (fast X% der Haushalte besitzen bereits einen PC auf dem natürlich
> Software läuft)
>    ? In der Spielewelt der Kinder (Karstadt - Abteilung Kinderspiele)
> ? In immer mehr Publikationen wird von ?informationstechnischen
> Grundqualifikationen? gesprochen, die genaueren Hintergründe in Zusammenhang
> mit der Informatik bleiben zumeist unbeantwortet. Diese Nicht-Beantwortung von
> Fragen wirkt ideologisierend.

[X] Der letzte Satz ist _schön_.

> ? Welche fachübergreifenden Fähigkeiten/Fertigkeiten (Schlüsselqualifikationen)
> kann die Informatik vermitteln
> ? Welche Ideologien verbergen sich hinter dem unhinterfragten Gebrauch von
> Software aller Art

Hinter etwas Unhinterfragten steht keine Ideologie. Die Frage steckt
woanders: Welche Ideologie besitzen die Leute, die den unhinterfragten
Gebrauch von Software aller Art fördern oder sogar erzwingen?

> ? Welche Inhalte (aus Sicht der Pädagogik) sollten in der
> informatischen(informationstechnischnischen Bildung vermittelt werden, werden
> aber faktisch vernachlässigt
> ? Gibt es andere Begründungszusammenhänge für
> informatischen/informationstechnischen Unterricht/Weiterbildung als den
> technologischen/ökonomischen ?
> ? Welche Bedingungen/Voraussetzungen unterliegen den Entscheidungen, die
> verantwortlich sind, welche Software in den bildungsrelevanten Bereichen zur
> Anwendung kommen ?
> 
> Die pädagogischen Implikationen der Informatik lassen sich zunächst mal leider
> nur fragmentarisch darstellen, trotzdem ist genau dies vielleicht ein erster
> Schritt um die Informatik der Pädagogik einen Schritt näher zu bringen (bzw.
> umgekehrt).
> 
> Thesen:
> ? Informationstechnische Gegebenheiten treten dermaßen extensiv in den
> Lebenszusammenhang des Subjekts ein, daß sich die Erziehungswissenschaft um die
> Aufklärung der gesellschaftlichen aber auch technischen Hintergründe in der
> Bildung bemühen muß.
> ? Der Gebrauch von Computern/Software als einer Art Black-Box und als
> Naturtatsache führt zu einer Verdeckung von Zusammenhängen, die auch mit der
> herkömmlichen  informatischen/informationstechnischen Bildung (von der die
> Erziehungswissenschaft keine Ahnung hat) nicht aufgedeckt werden kann.
> ? Informatische/Informationstechnische Gegebenheiten greifen in die herrschende
> Ökonomielogik in einer Art und Weise ein, wie das bis jetzt in keiner anderen
> Industrie zu beobachten war. Die Kenntnis der Änderung dieser Ökonomielogik
> wirkt emanzipativ. Der Begriff ?Industrie? im vorherigen Satz verschwimmt bei
> genauerer Betrachtung zunehmend und kann auch genausogut mit dem Begriff
> ?Hobbykultur? ersetzt werden.
> ? Informatische/informationstechnische Inhalte vermitteln wichtige methodische
> Fähigkeiten/Kenntnisse, die in allen Lebenszusammenhängen relevant sind.
> ? Wenn vor 30 Jahren die Emanzipation von den ?herrschenden Verhältnissen? und
> unhinterfragten ideologischen Strukturen gefordert wurde, so ist dies heute im
> Bereich der Informationstechnik um so mehr vonnöten
> ? Die Beschäftigung mit (fach-)informatischen Themen ist heute nicht nur im
> Sinne einer technologisch-ökonomischen Weiterbildung/Erstbildung zu sehen,
> sondern kann durchaus mit gutem Grund als Selbstzweck bzw. sogar als
> emanzipatorischer Akt gedeutet werden.
> ? Die Selbstorganisationsfähigkeit und das damit zusammenhängende
> selbstorganisierte Lernen in der freien Softwareentwicklung ist unvergleichbar
> und kann richtungsweisend für die Forschung des ?selbstorganisierten Lernens?
> sein (Wenn da nicht die oben angesprochene Ökonomielogik der Softwareproduktion
> wäre die das ganze evtl. in anderen Bereichen des selbstorganisierten Lernens
> verhindern würde).

-- 
I am chaos.  I am the substance from which your artists and scientists 
build rhythms.  I am the spirit with which your children and clowns  
laugh in happy anarchy.  I am chaos. I am alive, and tell you that you
are free. - Eris, Goddess Of Chaos, Discord & Confusion




Mehr Informationen über die Mailingliste FSFE-de