Bankkontenmodell

Reinhard Wiesemann r.wiesemann at villa-vogelsang.de
Do Aug 30 07:46:44 UTC 2001


Hallo Lutz & Liste,

> Lutz Horn schrieb:
> Tja, hier stellt sich mir die Frage, ob allein die Tatsache, dass "es so
> ist", dass also der Bäcker und jeder andere in dieser Form in
> Vorleistung tritt, ein unhinterfragbar positive Sache ist. Ein Nachteil,
> der dem Bäcker entsteht ist z.B., dass er an einem schlechten Tag am
> Abend auf einem Haufen unverkaufter Brötchen sitzt, die er wegschmeißen
> oder bestenfalls einer Obdachlosen-Hilfsorganisation geben kann. Besser
> wäre es doch aber, wenn dieser Zustand gar nicht erst entsünde, wenn
> diese, in anderen Bereichen (Agrar- oder Automobil-Produktion)
> katastrophale Überprdouktion und Verschwendung von Ressourcen vermieden
> würde.

Der Gedanke ist sicher richtig, ich liebe es auch, vieles zu hinterfragen.
Aber irgendwo muß man an Bewährtem anknüpfen und ich finde es richtig, nur
stufenweise zu hinterfragen, also nicht alles auf einmal. N.B.: Das Problem
der Über- und Sinnlos-Produktion hast Du bei dem von Dir befürworteten
Modell der Selbstorganisation noch viel stärker. Welch' immense Ressourcen
werden hier verbraten, weil unzählige Leute unkoordiniert arbeiten.

Aber bitte nicht mißverstehen: Ich spreche mich _für_(!) das Prinzip der
Überproduktion / Verschwendung aus, weil ich kein besseres sehe und weil ich
genau das gleiche auch in der Natur entdecke.


> Ein System, in dem irgendwer zentral Macht ausübt, ist schlecht. Ich
> wundere mich aber, warum Du hier und in dem von Dir kritisierten
> Gremien-Prinzip die einzigen beiden denkbaren Möglichkeiten siehst.
> Natürlich würden die Mitglieder eines wie auch immer bestimmten Gremiums
> nicht unbedingt im Sinne aller Beteiligten entscheiden und sich schnell
> durch Argument, die eigentlich nichts mit den zu entscheidenden Fragen
> zu tun haben, beeinflussen lassen. In Deiner Diktion wären solche
> "Argumente" z.B. "Vitamin B".
> 
> Warum aber an dieser Stelle stehen bleiben und nach der berechtigten
> Kritik am Gremien-System, dass übrigens, wie andernorts in diesem Thread
> vorgeschlagen, durch die Beteiligung von Figuren wie Stihl nicht besser
> würde, als allein übrig bleibende Lösung die "freundliche"
> Marktwirtschaft hochleben lassen?
> 
> Das besondere an der Entwicklung Freier Software ist doch, neben der
> Freiheit natürlich, die Art, _wie_ sie entwickelt wird. Im besten Fall
> finden sich auf selbstorganisierte, rein interessengeleitete Art
> Menschen zusammen, die an einem Projekt arbeiten wollen. Das Interesse
> ist dabei nicht monetärer Natur, wie es in Deinem Vorschlag in erster
> Linie der Fall wäre. Vielmehr wird genau an den Dingen und Problemen so
> lange gearbeitet, wie es den Beteiligten gefällt, sie einen für sich
> sinnvollen Nutzen aus diesem Projekt ziehen können und keine perönlichen
> oder auch fachlichen Differenzen zwischen den Beteiligten auftreten.
> Wenn dabei einer auf Grund seiner Fähigkeiten ein koordinierende und
> vermittelnde Rolle einnimmt, in der er von den anderen akzeptiert wird:
> um so besser. Ein herausragendes Beispiel ist hier sicherlich der
> Linux-Kernel, zu dem Linus ja bekanntlich auf die Frage, wie er denn die
> Kontrolle über ihn behalten wolle, geantwortet hat: "I won't". Die aus
> dieser Haltung heraus mögliche Form der Selbstorganisation sollte nicht
> unterschätzt werden.

Ein sehr schöner Gedanke, der sogar schon bewiesen hat, daß er funktioniert!
Denn ein Großteil des GNU/Linux-Projektes ist ja so entstanden und entsteht
weiterhin so.

Ich stimme Dir voll zu, daß diese Selbstorganisation etwas ausgesprochen
tolles und wertvolles ist. Mein Vorschlag soll auch lediglich ergänzend (!)
dazu existieren und die zusätzlichen Bedürfnisse von den Leuten abdecken,
die nicht schon irgendwie durch Uni, Eltern, sonstige Berufstätigkeit oder
Reichtum versorgt sind. Auch die FSF verkündet ja, daß freie Software und
der Wunsch, davon leben zu können, keine Gegensätze darstellen und ich halte
es einfach für notwendig, diese theoretische Überzeugung irgendwann einmal
auch in der Praxis zu beweisen.

Wie gesagt: _Ergänzend_ zu der Selbstorganisiation, die ich persönlich
(wahrscheinlich sind wir uns da sogar einig) letztlich für noch eine Stufe
besser halte. 

> 
> Mein Vorschlag wäre daher, nicht über Formen nachzudenken, wie auf einem
> imaginierten Markt für Freie Software Produzenten und Kunden zusammen
> kommen könnten. Für viel wichtiger halte ich die Frage, wie diese
> Potenzial zur Selbstorganisation, ohne Vermittlung durch einen Markt und
> ohne ein entscheidendes Gremium, aktivieren und nutzbar machen kann.

Das ist wieder ein ganz toller Gedanke, über den man nachdenken sollte.
Spontan denke ich hier vor allem an ein freundliches Umfeld, in dem
Selbstorganisation zunächst einmal nicht behindert wird. Also gute Gesetze,
eine Lösung des Software-Patent-Problems und andere Sachen, für die die FSFE
sich stark macht. Aber weitere Gedanken sind hier sicher sinnvoll...

> 
> Deinen Vorschlag halte ich daher zwar für anregend, da er Anlass zur
> Klärung von theoretischen, meinetwegen auch ideologischen Fragen gibt,
> möchte ihn aber nicht weiter verfolgen.

Auch wieder ein schöner Effekt: Der eine meint, man müßte freie Spiele
schaffen, damit Linux besser voran kommt. Ich meine, man muß das Problem
lösen, wie die Programmierer freier Software ein vernünftiges Einkommen
erreichen. Du meinst, man müßte über die Stärkung der Selbstorganisation
nachdenken. 

Ein wunderschön breiter Ansatz.

Viele Grüße
Reinhard





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