micu schrieb:
Wart ihr mal auf einem der letzten Chaos Communication Congresse? Dort erstickt man inzwischen geradezu in einem Meer von MacBooks und sonstigem iHasteNichtGesehen. Gut; da könnte man jetzt sagen, dass diejenigen, die dort mit ihrem proprietären Kram auf dem Kongress aufschlagen, ja nicht unbedingt zum inneren Kern des CCC gehören müssen, sondern auch irgendwelche Journalisten oder Interessierte aus dem Dunstkreis sein können. Dass sie --- genauso wie die ganzen Microsofties und Macies auf irgendwelchen Bloggerkonferenzen, Piratenparteitreffen, etc. --- einfach noch nicht so direkt auf das Thema freie Software gestoßen sind und noch nicht erkannt haben, welche Bedeutung der freien Software für eine freie digitale Gesellschaft zukommt.
Aber es gibt ja auch Leute, von denen man weiß, dass sie ganze genau wissen, was freie Software ist und warum sie wichtig ist, die trotzdem diese proprietären Hardware-Software-Bundles nutzen (und bei all ihren Vorträgen ziemlich unverhohlen mit dem Obstlogo Werbung für unfreie Software machen): Volker Grassmuck, Lawrence Lessig, Julian Assange, Constanze Kurz, Frank Rieger, Tim Pritlove, Andy Müller-Maguhn — um nur mal ein paar Beispiele von Netzcelebreties zu nennen; weitere Beispiele aus dem Bekanntenkreis sollten viele hier zu genüge kennen.
Ich habe zufällig auf dem 27C3 ein paar Minuten mit Tim Pritlove über Freie Software diskutiert - und erst viel später erfahren, wer mein Gesprächspartner war - und mir anschließend gedacht, was war denn das für ein Vogel ;-).
Aber: wir sollten diese Leute erst nehmen, denn sie legen IMO einen Finger in eine offene Wunde.
Die Frage ist: wer ist das Zielpublikum für Freie Software? Diejenigen, die verstehen und lernen wollen, mit dem Computer - auch in Gestalt eines Mobiltelefon - umzugehen - in souveräner Weise. Ich finde diese Einstellung sehr unterstützenswert. Ich will meinen Computer beherrschen und mich nicht vom ihm beherrschen lassen!
Insoweit ist mit Freier Software alles in Butter. Ich habe eine ausreichende Auswahl an Programmen, die ich zur Erledigung meiner Arbeit einsetzen kann und was mir gefehlt hat, habe ich selbst geschrieben. Alles eitel Sonnenschein!
Aber es gibt auch Leute, für die ist ein Computer ein Arbeitsinstrument, dass möglichst einfach zu bedienen sein soll. Die können oder wollen sich nicht dem auseinandersetzen, was unter der möglichst freundlich gestalteten Oberfläche geschieht.
Ok, die können wir jetzt erst einmal ein bisken zur Verantwortung rufen. so von wegen Mündigkeit im digitalen Zeitalter usw.. Antwort: Ich will aber meinen Computer nur konfortabel bedienen können und ein bisken nett aussehen soll er auch und genau das liefert mir Firma XYZ. Mehr will ich gar nicht. Gegenrede: Aber Du hast zu verstehen wollen, was in Deinem Computer abgeht, weil ... . Antwort: Kann oder will ich aber nicht - ich will arbeiten!
Sind diese manchmal etwas bockigen Leute nicht das Publikum für Freie Software?
Ok, in letzter Zeit ist da vieles geschehen. Usability, User Experience oder böse gesagt DAU-Kompatibilität sind auch bei Frei Software keine Fremdwörter mehr. Es ist die Oberfläche vieler Programme sowohl zweckmäßig als auch schön gestaltet worden und die Beachtung gewisser (Industrie-)Standards sorgt oft dafür, dass der Nutzer findet, was und wo er es erwartet.
Aber wird hier genug getan? - oder: gehen wir mit unserer Kompetenz verantwortungsvoll genug um?
Schauen wir genug auf die Bedürfnisse der Nutzer?
Anders gefragt: Programmieren da einige nicht lieber den gefühlt tausendsten Editor, statt sich für die Verbesserung einer Office-Suite einzusetzen?
Oder geben da einige nicht lieber die dreihundertfünfzigste GNU/Linux-Distribution heraus, statt sich für die Verbesserung einer bestehenden einzusetzen?
Zählen nicht manchmal neue Features mehr als QA und Usability?
Es geht mir weder um einen Einheitsdesktop, noch die Einheitsdistri, noch um die Beschränkung der Freiheit und Freude von Programmierern.
Vielfalt ist ein wichtiger Vorzug Freier Software! Und Freude am Programmieren wichtiger Antrieb für die Schaffung Freier Software!
Aber müssen wir die oben beschriebenen nicht ganz so technikkompetenten oder "frickelwilligen" Nutzer wirklich der proprietären IT-Industrie überlassen?
Wenn bei Freier Software die Freiheit des Nutzers im Vordergrund steht, sollten wir nicht stärker auch einmal an dessen andere Bedürfnisse denken?
Ok, Freiheit ist und wird anstrengend bleiben, aber können wir den Nutzern die Last der Freiheit nicht etwas erleichtern?
Wir müssen nicht jeden Troll ernst nehmen aber ein Körnchen Wahrheit steckt manchmal auch in der Kritik der Apple-Fanboys (ok es gibt auch -girls ;-) ).
Gruß Michael