Halo Theo,
theo.schmidt@wilhelmtux.ch schrieb:
Es geht mir [...] um meine Sorge um die Qualität von Freier Software, die ich in Gefahr sehe. Ich habe das Gefühl, das die Systeme dermassen komplex werden, und die durch den Konsumismus hervorgerufene Beschleunigung dermassen zunimmt, dass es mit der Qualität abwärts geht, weil man da einfach nicht mehr mitkommt.
[...]
Ich fürchte, dass freie Software am "explodieren" ist, weil sich alles beschleunigt, aber die menschlichen Resourcen begrenzt sind, ja sogar abnehmen, wenn ständig Firmen, die FOSS einigermassen unterstützt haben, von solchen aufgekauft werden, die das weniger tun.
Ich plädiere für eine Entschleunigung.
Grundsätzlich teile ich deine Sorge, die mich in regelmäßigen Abständen ebenfalls überkommt. (... wenn auch in anderen Bereichen der Softwarewelt)
Doch muss man sich klar machen, dass es genau diese Kritik immer gegeben hat, nicht nur seit Entstehung der Freien Software, sondern seit Anbeginn der Software überhaupt.
Schon in den 60er Jahren wurde der Begriff der "Softwarekrise" geprägt - eine Krise, die bis heute als ungelöst gilt, mit der wir aber von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer ein bisschen besser umzugehen lernen. Das Buch "The Mythical Man-Month" [2] in der "anniversary edition" ist eine sehr schöne Zusammenfassung von 20 Jahren dieser Entwicklung (1975 bis 1995).
Ich erinnere mich, wie ich in jungen Jahren von "alten Hasen" hörte, die 2.0er Version sei der letzte stabile Linux-Kernel gewesen. Später hörte ich genau das gleiche über die 2.2er Version. Und dann über die 2.4er Version. Und sobald der Sprung zur 3.0er-Version lange genug her ist, wird es auch genügend Leute geben, die sagen, der 2.6er Linux-Kernel sei der letzte stabile gewesen.
Dies ist der eine Effekt, den man sich klar machen muss: Dass Menschen dazu neigen, die Dinge in ihrer Erinnerung zu schönen. "Früher war alles besser." Man erinnert sich nicht mehr so sehr an die vielen Nächte, die man sich damals mit Computerproblemen herumgeschlagen hat. Man vergisst die Dinge zu schätzen, die heute vollautomatisch laufen.
Bei Software kommt aber noch ein anderer Effekt hinzu: Nämlich dass übermäßig aufgeblähte Projekte von Zeit zu Zeit einen Konkurrenten erhalten, der radikal einfacher aufgebaut ist und wieder zurück zum Wesentlichen gefunden hat. Was nicht heißt, dass der sich auch durchsetzt, aber zumindest ist er da, findet seine Enthusiasten und wird aktiv weiterentwickelt.
Ein Beispiel dafür die SGML, das durch XML nahezu komplett abgelöst wurde. Genauso wie heute kaum noch jemand Corba kennt, aber jeder SOAP. Für viele Anwendungen sind XML immer noch zu viel Bloat, da hocken und JSON und YAML in den Startlöchern. Und statt SOAP nehmen viele auch XML-RPC, JSON-RPC, oder ersetzen ihre RPC-Schnittstellen durch REST-Schnittstellen.
Oder nehmen wir Webserver. Apache ist der Platzhirsch, aber ziemlich komplex geworden. Manche Projekte brauchen das, für alle anderen gibt's inzwischen Lighttpd und Nginx.
Oder E-Mail-Server. Da hat Dovecot erfolgreich den Courier verdrängt. Und Sendmail wurde schon lange von Postfix und Exim verdrängt.
Ich bin daher guter Dinge, dass dies auch bei GUI-Systemen bald der Fall sein wird, entweder durch ein neues Major-Release, oder einen Fork, oder einen radikal neu geschriebenen Konkurrenten. Erste Ansätze gibt es bereits mit Desktopsystemen wie XFCE oder Enlightenment. Ob die das Rennen machen, oder ob es Gnome einfach schafft, nicht die Fehler von KDE-4 zu wiederholen ... wer weiß. Aber ich würde da nicht zu duster in die Zukunft schauen.
Diese Nebenentwicklung sind in gewisser Weise eine "Entschleunigung", weil die kleinen Projekte viel weniger Arbeitskräfte haben, die sie verschwenden können. Und weil sie in der Regel fokussierter arbeiten. Ob das aber insgesamt besser ist als ein gut organisiertes großes Projekt, das weiß ich nicht.
Gruß Volker
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Softwarekrise