Hallo,
worum geht es bei Freier Software? Um die Freiheit des Nutzer.
Moralisch in die Verantwortung genommen wird der Entwickler, der um der Freiheit des Nutzers willen seine Software unter einer Lizenz verbreiten soll, die dem Nutzer bestimmte Freiheiten einräumt.
Für den Nutzer stellen sich erst einmal praktische Fragen: Kann ich beispielsweise unter Wahrung hinreichender Sicherheit meines Systems Software einsetzen, deren Quelltext studiert werden kann?
Kann ich Software einsetzen, die nicht Offene Standards implementiert? (Es gibt auch proprietäre Software, die Offene Standards implementiert.)
Letztlich ist das jeweils eine Abwägung im Einzelfall, die zwar ein Problembewusstsein erfordert, aber eher nicht moralischer Natur ist.
Moralisch wäre die Frage: Kann ich Software von Entwicklern einsetzen und diese durch meine Lizenzzahlungen unterstützen, die sich in meinen Augen unmoralisch verhalten, weil sie den Nutzer wichtige Rechte vorenthalten und diese wenn möglich in Abhängigkeitsverhältnisse zwingen wollen?
Die christliche Lehre von der Erbsünde besagt, dass der Mensch notwendigerweise von Anfang an in sündhafte Verhältnisse verstrickt ist, was er zu erkennen vermag. Wer kann schon wirklich guten Gewissens beispielsweise einen Computer nutzen, wenn er weiß (also eine Frucht vom Baum der Erkenntnis "genascht" hat), unter welchen Bedingungen und Umständen derzeit Computer hergestellt und die hierzu notwendigen Rohstoffe gewonnen werden?
Aus dem Vorstehenden folgt, dass proprietäre Software genutzt werden kann, wenn es hierfür gute Gründe gibt.
Wenn ich eine bestimmte Funktionalität brauche, es keine Freie Software gibt, die diese bietet, ich kein Entwickler und auch nicht in der Lage bin, eine entsprechende Entwicklung zu finanzieren, kann mir kein moralischer Vorwurf bei der Nutzung proprietärer Software gemacht werden, da es kein zumutbares Alternativverhalten gibt. Wenn es die Freiheit der Wahl nicht gibt, erscheint der Vorwurf einer Entscheidung gegen die Freiheit sinnlos.
Bequemlichkeit ist kein guter Grund.
Bequemlichkeit ist genau das "Feature", mit dem fast immer Leute in die vendor-lock-in-Falle gelockt werden.
Bequemlichkeit durch Kontrollverlust zu erkaufen, erscheint mir daher moralisch zweifelhaft, es sei denn, der Produktivitätsgewinn wäre so überragend hoch. dass er andere Gesichtpunkte in den Hintergrund drängt.
Also letztendlich in extremen Fällen wieder eine Abwägung im Einzelfall.
Leider lässt sich das Leben auch in moralischer Hinsicht nicht mit ein paar einfachen Regeln (beispielsweise: "Nutze keine proprietäre Software!") steuern, es sei denn, sie wären so allgemein ("Ama et fac, quod vis!"), dass ihre Anwendung im Einzelfall großer gedanklicher Anstrengungen bedarf.
Gruß Michael