Hallo Michael,
On 18.12.21 17:54, Dr. Michael Stehmann wrote:
[...] Nun zur (hoffentlich konstruktiven) Kritik:
Ich fürchte, dass hier wieder einmal ein soziales Problem mit technischen Mitteln "gelöst" werden soll.
Ich versuche mal Deine Befürchtung zu entkräften.
Ich stimme Dir zu, dass das Potenzial technischer Lösungen sehr begrenzt (oder sogar negativ) ist, wenn sie nicht von wünschenswerten sozialen Innovationen begleitet werden. Aber ich strebe in meinem Wunschszenario eine eine "technisch vermittelte" soziale Innovation an.
Um dies an die These 1 anknüpfend zu verdeutlichen:
Es gab "textbasierte und asynchron ablaufende Diskussionen" durch Briefwechsel unter Gelehrten, die die Wissenschaft vorangebracht haben [0]. Und es gab Bürgerversammlungen, die im Geschrei und Schlimmeren endeten.
Das stimmt, würde ich aber als "die Regel bestätigende Ausnahmen" klassifizieren. Wir machen vermutlich alle die Erfahrung, dass die Gefahr keiner dysfunktionalen Kommunikation via Mail etc. viel größer ist, als über Telefon oder persönlich. Ich vermute, dass es dazu auch Studien gibt und würde bei Bedarf mal suchen. Bisher nur eigene Erfahrung und anekdotische Evidenz.
Es ist leider nicht mit Sicherheit erwartbar, dass ein Mensch deshalb respektiert wird, weil er ein Mensch ist (und ihm eine unantastbare Würde eigen ist).
Zustimmung. Aber das ist ehrlich gesagt nicht das Hauptproblem, was ich angehen möchte, bzw. möchte ich es indirekt angehen.
Ich möchte, dass die *Sachebene* einer Diskussion gestärkt wird, dass die verschiedenen Argumente und Perspektiven möglichst transparent erkennbar sind. Zum Beispiel in dem (technischer Aspekt) die Urheberschaft eines Beitrages nicht erkennbar ist, sondern der Inhalt für sich steht (und für sich überzeugen muss).
Manche Menschen meinen, dass sie im Recht sind und alle anderen dies einsehen müssen. Und dass eine andere Meinung schon deshalb auf Boshaftigkeit beruhen muss, weil sie ja zu den "Guten" gehören. Bei ihnen ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen, dass auch derjenige, der eine andere Auffassung vertritt, recht haben könnte. Dieses Bewusstsein ist aber notwendige Voraussetzung für eine Diskursfähigkeit.
Eingeschränkte Zustimmung. Ich glaube, die wenigsten Menschen würden in einer nüchternen Gesprächssituation für sich tatsächlich *Unfehlbarkeit* beanspruchen. Und wenn doch, dann müsste man sie nicht ernst nehmen. In einem emotional aufgeladenen Gespräch verhalten sich aber manche Menschen so, wie Du beschrieben hast. Ich glaube aber, dass (technisch erzwungene) Formalisierung hier (etwas) helfen kann. 1. Indem man die Kommunikationsbeiträge klar klassifiziert (z.B. These, Pro-Argument, Kontra-Argument, etc.), 2. indem man sie hinsichtlich ihrer Überzeugungskraft bewerten lässt (und damit ihre Sichtbarkeit beeinflusst), und drittens indem man (teilautomatisiert) moderiert.
Schlecht bewertete (destruktive) Beiträge werden dann einfach weiter unten (oder gar nicht) angezeigt. Dann sind sie a) egal und b) überlegen sich Menschen für den nächsten Beitrag, wie sie erneute Irrelevanz verhindern können (oder ob sie lieber auf einer anderen Plattform rumnerven).
(Schwierig wird es, wenn beiden Seiten recht haben können: Man stelle sich eine Diskussion unter Wissenschaftlern vor, von denen einer die Auffassung vertritt, Licht sei Wellen. Der andere hält dies für falsch, weil Licht "ganz klar und experimental nachgewiesen" aus Teilchen bestehe.)
Volle Zustimmung. Schwierig, aber auch sehr interessant und hochgradig relevant. Mein Wunsch in diesem Szenario wäre, dass beide Seiten einsehen müssen (durch die "normative Kraft des Faktischen"), dass es für beide Sichtweisen sehr gute Argumente und Belege gibt und dass die existierenden Begriffe offenbar die bekannten Eigenschaften von Licht nicht vollständig erfassen können. Dann kann jemand eine Modell vorschlagen, dass mit allen bisherigen Beobachtungen kompatibel ist, z.B. das Konzept der Aufenthaltswahrscheinlichkeit, die durch die Wellenfunktion bestimmt wird, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Welle-Teilchen-Dualismus#Aufl%C3%B6sung_des_We...
Auch ist zu bedenken, dass Menschen sich nicht deshalb an Diskussionen beteiligen, weil sie ein Problem lösen wollen. Es gibt vielmehr vielfältige andere Gründe und Motive, sich an einer Diskussion zu beteiligen.
Volle Zustimmung. Trolle zum Beispiel, die Diskussionen als Zeitvertreib torpedieren, oder Leute die aus eigenem Interesse verhindern wollen, dass eine Diskussion zu einem Ergebnis kommt.
In meinem Wunschszenario sind deren Kommunikationsbeiträge schlicht irrelevant, weil sie leicht als "nicht sachdienlich" erkannt und markiert werden können. Genau so wie 23 schlechte und falsche Antworten auf Stack-Overvlow mich nicht davon abhalten, die guten (und hoch-gevoteten) Antworten zu finden. In den meisten Fällen sehe ich den irrelevanten Kram gar nicht, wenn ich mit den oberen Antworten zufrieden bin. Und dann sinkt natürlich auch der Anreiz Zeit und Aufwand ins Trollen zu investieren (zum Vorteil von allen).
Dass meiner Meinung nach ein Code of Conduct kein "Königsweg" zur Lösung dieser sozialen Probleme ist, dürfte bekannt sein.
Partielle Zustimmung. Aus meiner Sicht ist ein solches Dokument auch kein Garant. Aber es kann eine wichtige Zutat für gelingende Kommunikation sein. Zum Beispiel, weil man als Moderation dann einfach mit Verweis darauf durchgreifen kann. Wem der CoC nicht passt, der braucht halt nicht mitdiskutieren.
Auch eine Deanonymisierung ist keine Lösung, denn leider werden Hass bis hin zu Morddrohungen auch unter "Klarnamen" verbreitet. Auch Mobbing geschieht oft ebenso so offen.
Zustimmung. Meine These: Wenn man *nur* anonyme Beiträge zulässt und diese "geeignet" nach Konstruktivität sortiert und filtert, sodass Beleidigungen etc. effektiv unsichtbar werden, gibt es keinen Anreiz für Menschen sich destruktiv an einem derart gestalteten Diskurs zu beteiligen. Die suchen sich dann andere Spielplätze und lassen die Menschen, die sich wirklich inhaltlich um die Sache bemühen möchten in Ruhe ihre Argumente austauschen.
Was hilft: Respekt und Toleranz als selbstverständliche Haltung. Dies zum Allgemeingut zu machen ist aber eine Frage der (Volks-)Bildung.
Vielleicht ist es ein erster Schritt, wenn unsere Community mit gutem Beispiel vorangeht.
Volle zustimmung. Aber das ist auch ein Allgemeinplatz :). Also ein absolut lobenswerter Appell – allein aber ich befürchte von beschränkter Wirkmächtigkeit.
Der Vorteil einer technischen Lösung ist aus meiner Sicht, dass dort das wünschenswerte Kommunikationsverhalten "in Code gegossen" werden und dadurch potentiell das Kommunikationsverhalten von vielen Menschen positiv beeinflussen kann. In dem Sinne sehe ich die technische Lösung als präzise ausformulierte (also implementierte) soziale Innovation.
These: Eine Gruppe von vier klugen Menschen könnte mit zwei Monaten Arbeit vermutlich keinen Appell, kein Manifest oder auch sonst einen Text formulieren, der nennenswert etwas an der weit verbreiteten dysfunktionalen Kommunikation ändert. Vermutlich auch dann nicht, wenn man Gruppengröße und Arbeitszeit jeweils mit 10 multipliziert.
Wenn man die gleichen Ressourcen dagegen in Software (inkl. Test, Marketing, etc) stecken würde, sehe ich aber deutlich größere Chancen für einen positiven Einfluss.
Vielleicht bin ich zu naiv, aber ich versuche mich bei der Betrachtung von Problemen auf Lösungen zu konzentrieren, die halbwegs realistisch angegangen werden können. Also eher: "Was kann ich tun", statt "Es müsste etwas Geschehen". :)
Gruß, Carsten